Menschenrechte, Doping, Belarus, Pressemitteilung, Stimme, Schutz

Reaktion auf den IOC-Vorstoß zur Wiedereingliederung Russlands in den Weltsport

Die Rückkehr Russlands in den Weltsport ist zum jetzigen Zeitpunkt verfrüht und sendet das falsche Signal. Zahlreiche Umsetzungsfragen zur Wiedereingliederung bleiben unbeantwortet. Der vorschnelle IOC-Vorstoß erstickt die überfällige und differenzierte Debatte zu roten Linien und Sanktionskriterien im Weltsport abermals im Keim.

Berlin, 27. Januar 2023. Russland führt einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Unsere Solidarität und unser Mitgefühl gelten den Ukrainer*innen, denen unvorstellbares Leid angetan wird. Sie sind auf die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Wir trauern mit ihnen um ihre Toten, nicht zuletzt auch um rund 180 getötete Athlet*innen.

Mit diesem Krieg verletzt Russland die völkerrechtlichen Normen der internationalen Gemeinschaft ebenso wie fundamentale Werte der Olympischen Bewegung; darunter Frieden, Völkerverständigung, die Wahrung der Menschenwürde und Solidarität. Ein Ausschluss Russlands aus dem Weltsport war und bleibt deshalb folgerichtig (s. unsere Forderungen vom Februar 2022).

Auch angesichts der kürzlich intensivierten Angriffe gegen die ukrainische Zivilbevölkerung sollte es derzeit keine Veranlassung geben, eine Wiedereingliederung Russlands und Belarus in den Weltsport zu ermöglichen. Dieser Schritt würde signalisieren: Eine Nation kann die Werte und Regeln des Sports und der Weltgemeinschaft Mal um Mal verletzen – ohne ernsthafte Konsequenzen fürchten zu müssen.

Seit Wochen zeichnet sich ab, dass das IOC eine Wiederzulassung russischer und belarussischer Athlet*innen vorbereitet. Die jüngste Stellungnahme des IOC-Exekutivkomitees lässt vermuten, dass die Entscheidung bereits gefallen ist. Eine offene und schonungslos ehrliche Auseinandersetzung mit den übergeordneten Fragestellungen zur eigenen Verantwortung des Sports, zu roten Linien und Sanktionskriterien im Weltsport wäre damit ausgeblieben.

Der vorgezeichnete, leider absehbare Weg führt sicherlich nicht nur uns die eigene Ohnmacht bei den großen Fragen des internationalen Sports vor Augen. Umso wichtiger und begrüßenswerter sind die deutlichen Worte, die Bundesministerin Nancy Faeser wiederholt an den Sport richtete. Viele deutsche Athlet*innen berichten uns dieser Tage von einer ablehnenden Haltung zur Rückkehr Russlands in den Weltsport. Für viele ist es aktuell nur schwer vorstellbar, wieder Wettkämpfe gegen russische Athlet*innen unter den jetzigen Bedingungen zu bestreiten.

Nach dem Staatsdopingskandal erzielte der Start russischer Athlet*innen unter neutraler Flagge schon einmal nicht die gewünschte Wirkung. Der russische Sport ist eng mit dem Staat verwoben. Athlet*innen werden von Putins Propaganda für politische Zwecke instrumentalisiert, freiwillig oder unfreiwillig. Die Überlegungen des IOC zur Wiedereingliederung Russlands und Belarus lassen daher viele Umsetzungsfragen unbeantwortet:

  • Wie kann nach den Erfahrungen vergangener Sommer- und Winterspiele echte Neutralität gewährleistet und eine politische Vereinnahmung der Athlet*innen vermieden werden?
  • Wie soll die Haltung russischer Athlet*innen zum Krieg glaubhaft festgestellt werden?
  • Wie wird mit Athlet*innen umgegangen, die im russischen Militär, in den Sicherheitsbehörden oder im Staatsapparat tätig sind?
  • Wie wird mit russischen Mannschaften, beispielweise in Spielsportarten, verfahren?
  • Wie wird mit Begegnungen zwischen ukrainischen und russischen Athlet*innen umgegangen?
  • Was passiert, wenn Athlet*innen oder Mannschaften Wettkämpfe gegen russische Athlet*innen boykottieren?
  • Wie wirken sich Boykottentscheidungen auf die Förderung sowie Nominierungs- und Qualifikationsbedingungen von Athlet*innen aus?
  • Wie sollen russische und belarussische Athlet*innen in bereits laufende Qualifikationsverfahren eingegliedert werden?
  • Werden Protestaktionen gegen den Krieg vom IOC und den Verbänden unterstützt oder toleriert? Bleiben sie sanktionsfrei und werden demonstrierende Athlet*innen geschützt?
  • Wie soll die Einhaltung der Regelungen und Bedingungen kontrolliert werden? Wer ist dafür verantwortlich?
  • Wie werden Regelverstöße geahndet und wer befindet darüber?
  • Wie kann nachvollzogen werden, dass russische Athlet*innen in den letzten Monaten lückenlosen und unabhängigen Dopingkontrollen unterzogen wurden und wie werden regelmäßige Tests und deren Analyse momentan gewährleistet?
  • Wie viel Vertrauen kann noch in die Wirksamkeit des russischen Dopingkontrollsystems gesteckt werden, nachdem Russland den Weltsport systematisch betrogen und die RUSADA immer noch keine Wiederzulassung hat?

Wir verstehen, dass das IOC und die Weltverbände mit Sanktionen und Ausschlüssen in Anbetracht der verbindenden und friedenstiftenden Mission des Sports einen schmalen Grat beschreiten. Seine politische Neutralität ist elementar für den Sport, um sich vor Instrumentalisierung zu schützen und weitestgehend global aktiv zu sein. Diese Neutralität darf aber nicht als Ausrede herhalten, schwerwiegende Verletzungen von universell geltenden Menschenrechten hinzunehmen und dadurch möglicherweise sogar zu tolerieren.

Die Achtung der Menschenrechte ist vielmehr grundlegender Bestandteil der Integrität des Sports und der Werte, die die Olympische Bewegung für sich reklamiert. Wann führt der organisierte Sport endlich eine ernsthafte Diskussion über den Umgang mit Staaten, die diesen Wertekanon des Sports gravierend verletzen, den Sport gezielt als politisches Instrument benutzen und Völker- und Menschenrecht brechen? Russland, China, Katar, Belarus und Iran sind nur jüngere Beispiele.

Soll ein Staat, der einen Angriffskrieg gegen eine andere Nation führt, Teil der Olympischen Bewegung sein, die sich für Frieden einsetzt? Soll ein Staat, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt, Olympische Spiele ausrichten, während sich die Olympische Bewegung Völkerverständigung auf die Fahnen schreibt? Kann ein Staat, der gegen seine Athlet*innen mit Repressalien vorgeht und sie sogar hinrichtet, Mitglied der Olympischen Familie sein, die sich für die Wahrung der Menschenwürde stark macht?

Der Sport muss jetzt eine ehrliche Auseinandersetzung zu roten Linien und damit auch zu Sanktionskriterien im internationalen Sportsystem führen. Solange Athlet*innen nicht als staatenlose Individuen die Bühne des Weltsports betreten, sondern untrennbar als Repräsentanten ihrer Nationen verstanden werden, wird sich der Sport diesen schwierigen und harten Fragen stellen müssen. Solange der Sport seinen Wertekanon hochhält, muss er zeigen, dass er diesen mit Leben füllen kann.

Wir sind uns der Komplexität der Debatte bewusst. Anstatt diese Auseinandersetzung zu übergehen und damit die Glaubwürdigkeitskrise des Sports immer weiter zu verschärfen, muss sie geführt werden – und zwar differenziert. Das benötigt Zeit, Offenheit, Transparenz und Ehrlichkeit. Der aktuelle Vorstoß des IOC hingegen erstickt diese überfällige Debatte erneut im Keim und lenkt von der eigenen Verantwortung sowie den systemischen Problemen im Weltsport ab. Sportverbände auf nationaler und internationaler Ebene sind nun angehalten, sich in progressiven Allianzen zusammenzuschließen und glaubwürdig für die Werte des Sports einzutreten.

Die Regierungen demokratisch verfasster Staaten sowie Sponsoren sind gefragt, eine solche Debatte einzufordern. Wir wünschen uns, dass die Verwirklichung der Menschenrechte im Sport auch Eingang in die wertegeleitete Außenpolitik Deutschlands findet. Das internationale Sportsystem selbst muss also Adressat außenpolitischer Bemühungen werden, um dringend überfällige Reformen mit Nachdruck zu erwirken. Dabei begrüßen wir ausdrücklich die jüngeren Entwicklungen und Positionierungen an der Schnittstelle zwischen Sport und Menschenrechten in der deutschen Sport- und Menschenrechtspolitik.