Gewalt und Missbrauch, Schutz

Stellungnahme: Integrität und Good Governance im Sport – Handlungsbedarf in Politik und Verbänden

Sehr geehrter Herr Vorsitzender,

sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

sehr geehrte Damen und Herren,

im Namen der für Deutschland startenden Athlet*innen bedankt sich Athleten Deutschland für die erneute Einladung in Ihren Ausschuss. Wir danken Ihnen für Ihr fortwährendes Engagement in den zusammenhängenden Themenfeldern Integrität, Safe Sport und Menschenrechte.

Eine strategische Säule der Aktivitäten von Athleten Deutschland ist der Schutz der Aktiven. Deshalb haben wir einerseits eine individuelle Fallbetreuung, kostenlose Rechtsberatung sowie die unabhängige Anlaufstelle Anlauf gegen Gewalt für Gewalterfahrungen im Spitzensport aufgebaut. Uns erreichten im vergangenen Jahr über 200 Kontaktanfragen von Hilfe- und Ratsuchenden. Vor diesem Hintergrund ist andererseits unser Engagement in den Bereichen Safe Sport und Menschenrechtenzu sehen, da wir das Schutzniveau der Athlet*innen und weiterer Risikogruppen strukturell und substanziell erhöhen wollen.  Im Folgenden stellen wir inhaltliche Anregungen vor, die im Detail auf unserem Positionspapier „Für eine Neuaufstellung der Integritäts-Governance im deutschen Sport von Ende 2021 fußen und im Lichte unserer Erfahrungen in der Fallbetreuung (s. u.) entstanden sind.

1. Drei Säulen der Integrität: Deutschlands gemischte Bilanz

Der Schutz seiner Integrität ist eine Kernaufgabe des Sports. Menschen, Wettbewerbe und Sportorganisationen müssen vor Gefährdungen bewahrt und auftretenden Missständen muss effektiv begegnet werden. Diese komplexen Herausforderungen sollten ganzheitlich, systematisch und strategisch bewältigt werden. Eine ganzheitliche und tiefschürfende Analyse der Anstrengungen im deutschen Sport zum Schutze seiner Integrität – wie es sie als Integrity Governance Reviews in anderen Ländern, z.B. in Großbritannien oder Australien, gegeben hat – liegt unseres Wissens nicht vor. Basierend auf den verfügbaren Informationen und unseren eigenen Erfahrungen lässt sich beim Umgang des deutschen Sports mit Integritätsfragen allenfalls eine gemischte Bilanz ziehen.

1.1 Integrität von Wettbewerben

Beim Schutz der Integrität von Wettbewerben stellen wir fest, dass Deutschland mit der Nationalen Anti Doping Agentur(NADA) im Kampf gegen Doping gut aufgestellt ist. Das bestätigt auch der National Anti-Doping Governance Observer von 2021, bei dem die NADA im internationalen Vergleich vorn liegt. Die NADA hat zudem ihre Aktivitäten im Bereich Intelligence and Investigation sukzessive ausgebaut und ein online-basiertes Hinweisgebersystem etabliert. Zugleich hat auch der Gesetzgeber seine Unterstützung für die Anti-Doping-Arbeit deutlich intensiviert.

Die Bekämpfung von Wettbewerbsmanipulation wird noch vernachlässigt. Einen ersten Beitrag zur Vernetzung leistet das BMI, das auf der 2019 ins Leben gerufenen Nationalen Plattform zur Bekämpfung der Manipulation von SportwettbewerbenBehörden, Verbände, Sportveranstalter und die Sportwettbranche regelmäßig zusammenbringt.[1] Die überwiegende Mehrheit der Spitzenverbände besitzt keinen Ansprechpartner oder Ombudsmann für diesen Themenbereich. Das BMI richtete im vergangenen Jahr gemäß der Macolin-Convention die Meldestelle Sportmanipulation ein.

1.2 Integrität von Organisationen

Good Governance ist keine Stärke des deutschen Sports. Allein die Berichterstattung der letzten Jahre lässt vermuten, dass im Bereich Good Governance im deutschen Sport deutliche Verbesserungspotenziale bestehen. Vorbote dieser Entwicklungen war das schwache Abschneiden acht deutscher Verbände und des DOSB im Forschungsprojekt National Sports Governance Observer. In der Gesamtbewertung erreichten die deutschen Verbände eine Quote von 37 Prozent und lagen damit abgeschlagen hinter Ländern wie Norwegen, Belgien, Dänemark, Rumänien und der Niederlande. Es bleibt zu hoffen, dass seit der Veröffentlichung der Studie im Jahr 2018 zumindest teilweise – u.a. wegen der Einbeziehung von Good Governance-Aspekten in den PotAS-Kriterien – Fortschritte erzielt worden sind. Es fehlt bisher gänzlich an Monitoringsystemen, die die Good-Governance-Maßnahmen der Verbände hinsichtlich ihrer Umsetzung und Wirksamkeit überprüfen könnten.

1.3 Integrität bzw. Schutz von Personen

Ein integrer und wertebasierter Sport muss auf der Achtung der Menschenrechte fußen. Gewalt und Missbrauch („Safe Sport“) sowie weitere Menschenrechtsrisiken im Sport sind in jüngster Vergangenheit verstärkt in den Fokus von Sportorganisationen und Politik gerückt. Insbesondere letztere erfahren jedoch nach wie vor zu geringe Beachtung. Die deutliche Mehrheit der Verbände lassen dezidierte Menschenrechtsstrategien bisher vermissen. Wir begrüßen in diesem Zusammenhang sehr, dass sich der DOSB im vergangenen Jahr auf den Weg hin zu einer Menschenrechts-Policy begeben hat. Die systematische Auseinandersetzung des organisierten Sports mit Menschenrechtsrisiken auf Grundlage der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte war und ist ein lang gehegter Wunsch von Athleten Deutschland.[2] Im Bereich Safe Sport bietet sich die Chance, mit dem unabhängigen Zentrum für Safe Sport zahlreiche Herausforderungen und hinlänglich beschriebenen Defizite in den Bereichen Prävention, Intervention und Aufarbeitung systematisch und strategisch anzugehen. Für dessen Konzeptionierung führt das BMI aktuell einen breit angelegten Stakeholderprozess durch. Zudem soll unter der Federführung der dsj ein Zukunftsplan Safe Sport die strategische Handlungsfähigkeit des organisierten Sports im Handlungsfeld erhöhen.

2. Unsere Erfahrungen in der Fallbetreuung: Notwendige Reformbedarfe

Im Lichte unserer Fallbetreuung mussten wir in den vergangenen Jahren feststellen, dass das Sportsystem in seiner jetzigen Form oft nicht in der Lage ist, kompetent, glaubwürdig und effektiv gegen Fehlverhalten und Missstände vorzugehen.[3]Kernursache dieses Problems sind deutliche Gefälle innerhalb der Verbandslandschaft im Umgang mit Missständen, Fehlverhalten oder -entwicklungen. Die Qualität der Fallbearbeitung darf aus unserer Sicht nicht vom Engagement und der Integrität einzelner Personen abhängen. In den letzten Jahren haben sich zwar engagierte Netzwerke und gut aufgestellte Verbände im Integritätsbereich hervorgetan. Es fehlen aus unserer Sicht jedoch strukturelle Vorkehrungen. Hinweisgeber*innen und betroffene Personen brauchen sichere Prozesse, frei von Interessenkonflikten, damit Meldungen von neutraler Seite entgegengenommen werden und auf diese nicht nur unabhängige Untersuchungen, sondern auch Konsequenzen im Sinne von Schlichtungs- und Sanktionsmechanismen folgen.

2.1 Der Umgang mit Meldungen und Missständen kann unangemessen sein.

Meldungen zu Missständen oder Fehlverhalten werden nicht ernst genommen, versanden im System und bleiben ohne Konsequenzen. Interne Ansprechpartner*innen werden teilweise weder als unabhängig noch vertrauenswürdig wahrgenommen. Handelnde Personen innerhalb von Verbänden können im Umgang mit Missständen Interessenkonflikten ausgesetzt sein. Teils agieren sie offen im Verbandsinteresse, haben mehrere Funktionen in Personalunion, sind nicht ausreichend qualifiziert, haben keine Durchsetzungskraft innerhalb des Verbands oder werden verbandsintern wegen ihres Aufklärungswillens bedroht. Sie können daher nur sehr bedingt zu einer von allen Seiten akzeptierten, neutralen und sachgemäßen Aufklärung beitragen. Verbandsgremien fehlen die Sensibilität und Handlungssicherheit im Umgang mit Missständen. Hinweisgeber*innen werden entweder öffentlich diskreditiert oder Druck ausgesetzt. Daten- und Persönlichkeitsschutz von Betroffenen oder Hinweisgeber*innen werden missachtet.

2.2 Ombudssysteme und Ethikkommissionen können überfordert oder gar nicht zuständig sein.

Ombudssysteme oder Ethikkommissionen zeigen sich für die Bearbeitung von Vorfällen oder Missständen nicht zuständig, sind überlastet oder haben keine Entscheidungs- bzw. Sanktionsbefugnis. In der Regel sprechen sie lediglich Empfehlungen aus, die von Verbandsentscheider*innen übergangen werden können. Ethikkommissionen können fragil sein (hier und hier) und im Zweifel von der Verbandsführung kompromittiert werden. Weil sich Betroffene oft nicht mehr zu helfen wissen und verbandsintern nicht weiterkommen, kontaktieren sie das Ombuds- und Ethikkommissionssystem des DOSB. Allerdings ist dieses nur für DOSB-Mitarbeitende und Organe sowie bei der Entsendung von Delegationen zu internationalen Multi-Sportveranstaltungen wie etwa den Olympischen Spielen zuständig.

Ombudspersonen und (ehrenamtlich besetzte) Ethikkommissionen selbst arbeiten nicht immer sachgemäß, manchmal unprofessionell und nicht mit der gebotenen Sorgfalt. Ihre Besetzung wird von Verbänden selbst bestimmt. Die Erstellung von Untersuchungsberichten dauert zu lange und folgt weder einem standardisierten noch einem sicheren Prozess. Dadurch wird das Vertrauen der Betroffenen enttäuscht und Missstände werden verschleppt. Frust und Ungeduld bewegen die Betroffenen zum Gang an die Öffentlichkeit – als Ultima Ratio. Daraus können erneute Belastungen für Betroffene resultieren, teilweise gar Repressionen oder Verleumdungsklagen. Beschuldigte und ihr Verbandsumfeld fühlen sich zu Unrecht an den Pranger gestellt. Der Sport erleidet einen Reputationsschaden nach dem anderen. Die Fälle bleiben ungelöst und Betroffene leiden weiter.

2.3 Die Mitbestimmungsrechte von Athlet*innen werden immer wieder eingeschränkt.

Einige Verbände missachten grundlegende Mitbestimmungsrechte von Athletenvertreter*innen. Höchste Verbandsführungsgremien kommunizieren ohne Einbindung von Athletenvertreter*innen oder arbeiten mit zu kurzen Fristsetzungen etwa bei der Erstellung von Athletenvereinbarungen oder Nominierungsrichtlinien. Stellungnahmen oder Fristsetzungen von Athletenvertreter*innen werden verbandsseitig ignoriert. Nominierungsrichtlinien sind veraltet oder unveröffentlicht. Wesentliche Entscheidungen, wie z.B. (Nicht-)Nominierungen, werden unsachgemäß oder unzureichend übermittelt und/oder begründet. Grundlegende Informationen für wichtige Entscheidungen werden Athletenvertreter*innen vorenthalten. Es fehlen oft Transparenz oder festgelegte Fristen sowie verbindliche, schriftliche Kommunikation bei wichtigen Entscheidungen, insbesondere bei Nominierungsverfahren für Wettkämpfe und Kader- bzw. Sportförderstellenplätze. Es gibt keinen verlässlichen Beschwerde- und Konfliktlösungsmechanismus, der Athlet*innen und Athletenvertreter*innen bei Rechte- und Pflichtverletzungen zur Seite steht. Mitbestimmungsrechte und Verfahrensmöglichkeiten bei Konflikten sind von Verband zu Verband unterschiedlich. Einheitliche Qualitätsstandards fehlen.

2.4 Die sportpolitischen Akteure können ohnmächtig sein.

Betroffene, deren Meldungen versanden oder unbefriedigend bearbeitet werden, suchen Hilfe bei Akteuren, die sich außerhalb der Verbandsstruktur befinden. Dazu gehören hauptsächlich die Stiftung Deutsche Sporthilfe, der DOSB, das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI), die Mitglieder des Sportausschusses des Deutschen Bundestages und Athleten Deutschland. Diese Akteure setzen sich mit den Vorwürfen auseinander und geraten in eine Ermittlerrolle. Dieser Rolle können sie aus verschiedenen Gründen nicht gerecht werden: Es fehlen das nötige Mandat, Befugnisse, Kompetenzen und Kapazitäten. Für Athleten Deutschland gilt zudem, dass unsere naturgemäße Parteinahme für die Athlet*innen eine neutrale Untersuchung der Fälle erschwert.

2.5 Missstände können nicht vom Sport allein bearbeitet werden.

Diese Erfahrungen haben uns gezeigt: Weder staatliche Zuwendungsgeber noch der DOSB können bei Verbänden und Vereinen durchgreifen, um Fehlverhalten aufzuklären, zu beheben oder zu sanktionieren. Es fehlen klar geregelte Zuständigkeiten und Kompetenzen. Stattdessen wird Verantwortung zwischen verschiedenen Institutionen hin- und hergeschoben und niemand kann einschreiten.

Es fehlt ein sicherer Mechanismus, Missstände aufzuklären, unabhängige Untersuchungen einzuleiten und möglicherweise Konsequenzen folgen zu lassen. Daraus folgt: Der deutsche Sport in seiner jetzigen Form kann die Menschen in seinem Wirkungskreis nur ungenügend schützen. Eine Neuaufstellung der Integritäts-Governance ist deshalb unerlässlich. Zwar sind das vom DOSB kürzlich geschaffene Hinweisgebersystem und die Ad-hoc-Ethik-Kommission begrüßenswerte Schritte in die richtige Richtung. Diese Maßnahmen sind jedoch kaum geeignet, die Grundproblematik des bestehenden Stückwerks, fehlender bindender Regelwerke, fehlender nutzerzentrierter Prozesse sowie unabhängiger Untersuchungs- und Sanktionsmechanismen aufzulösen.

3. Paradigmenwechsel: Für eine Neuordnung der Integritätsarchitektur

Wir schlagen ein harmonisiertes Integritätssystem vor, in dem Integritäts- und Menschenrechtsrisiken strategisch zusammengeführt und ganzheitlich bearbeitet werden. Dieses System soll Präventionsmaßnahmen flächendeckend sowie überprüfbar umsetzen und Risiken reduzieren. Es nimmt mit einem zentralen Hinweisgebersystem Meldungen entgegen, geht effektiv gegen Missstände, Fehlentwicklungen und Integritätsverletzungen vor und hält wirksame Untersuchungs-, Sanktions- und Abhilfemechanismen bereit. In der Mitte dieses Integritätssystems könnte eine unabhängige Integritätsagentur als perspektivische Erweiterung eines Zentrums für Safe Sport stehen. In diesem System haben alle beteiligten Akteure – staatliche Zuwendungsgeber, Dach- und Mitgliedsorganisationen des Sports, eine unabhängige Integritätsagentur sowie Anlauf- und Beratungsstellen für Betroffene – eine ausdifferenzierte Rolle inne, die sie frei von Interessenkonflikten ausüben.

3.1 Ganzheitliche Bearbeitung von Integritätsfragen

In verschiedenen Ländern, etwa in der Schweiz, in Australien oder Finnland, beobachten wir den Trend, Fragen der Integrität des Sports ganzheitlich und verzahnt zu bearbeiten – durch Instanzen, die unabhängig vom Sport sind. Auch in Deutschland ist ein weitgehender Reformansatz hin zu einer ganzheitlichen Neuordnung der Integritätsarchitektur unerlässlich. Deshalb sollte geprüft werden, ob und für welche Bereiche eine starke und unabhängige Nationale Integritätsagentur aufgebaut werden soll, statt für jeden Integritätsbereich auf eigenständige Organisationsstrukturen zu setzen.

Damit ließe sich dem bisherigen Flickenteppich und Stückwerk, der siloartigen Bearbeitung von Integritätsfragen und dem Durcheinander aus Ansprechstellen, Prozessen und Zuständigkeiten mit Harmonisierung, Vereinfachung und Strategie begegnen. Es ist nicht zielführend, ineffizient und nicht im Sinne der Nutzerzentrierung, wenn in verschiedenen Integritätsbereichen und in verschiedenen Verbänden unterschiedliche Systeme mit unterschiedlichen Prozessen und Kompetenzen vorgehalten werden. Stattdessen ließen sich mit einem ganzheitlichen Integritätsansatz Overhead-Kosten reduzieren, Prozesse vereinfachen, Standards harmonisieren und Synergieeffekte bei der spezialisierten Bearbeitung von Integritätsfragen heben. Eine verzahnte Bearbeitung von Integritätsfragen kann zu einem besseren Verständnis für Interdependenzen zwischen Integritätsrisiken führen. Die vernetzte Bearbeitung von Integritätsfragen böte nicht zuletzt die Chance, im Bereich der Intelligence Trends zu (neuartigen) Integritätsrisiken besser zu erkennen, als dies in voneinander getrennten Organisationen möglich wäre. Ein ganzheitlicher Integritätsansatz könnte weitere und bisher unzureichend erfasste Integritätsbereiche, wie etwa Diskriminierungs- und Gleichstellungsfragen, Mitbestimmungsrechte von Athlet*innen oder anderweitige Missstände in Verbandsstrukturen abdecken.

Effizienzgründe sprechen dafür, eine übergeordnete Organisationsstruktur zur Bearbeitung von Integritätsfragen im Sport zu prüfen – statt für jeden Integritätsbereich auf eigenständige Organisationsstrukturen zu setzen, z.B. im Anti-Doping-Kampf auf die NADA, im Kampf gegen Gewalt und Missbrauch auf ein Zentrum für Safe Sport sowie im Umgang mit Match-Fixing auf die Nationale Plattform zur Bekämpfung der Manipulation von Sportwettbewerben. Die genaue organisatorische Ausgestaltung, gerade mit Blick auf die etablierte NADA, bliebe abzuwarten. Sowohl in der Schweiz als auch in Australien wurden die dortigen NADOs um weitere Kompetenzbereiche hin zu nationalen Integritätsagenturen erweitert.

3.2 Dreiklang aus einfachen Meldewegen, unabhängiger Aufklärung und Konsequenzen

In Anlehnung an Modelle aus dem Ausland sollten die verschiedenen bestehenden Integritätssysteme zumindest mit einem einheitlichen, niedrigschwelligen und breit kommunizierten Kontakt- und Meldemechanismus als Single Point of Contactverbunden werden. Hinweisgeber*innen und Betroffene könnten direkt eine Meldung machen sowie an weitergehende externe Beratungs- und Unterstützungsangebote weitergeleitet werden.

Erfolgten Meldungen und Hinweisen muss nachgegangen werden. Nach einer Meldung und deren Prüfung kann eine unabhängige, neutrale und professionelle Untersuchung in einheitlich hoher Qualität durchgeführt werden – vor allem in solchen Bereichen, in denen hierzu klare Regelungen, Kompetenzen und Verfahren bisher fehlen. Die Unabhängigkeit ist entscheidend, um Vorfälle neutral und frei von Interessenkonflikten aufzuarbeiten. Dadurch entsteht Akzeptanz für den Prozess und seine möglichen Konsequenzen auf Seiten der Betroffenen, Beschuldigten sowie den Umstehenden. Zudem können nicht alle Verbände spezialisierte Expertise zur Aufklärung von Vorfällen vorhalten. Gerade im Interventionsfall fehlt vielen Verbänden auch die nötige Handlungssicherheit. Aus diesen und nicht zuletzt aus Kostengründen würde eine zentrale Stelle mit unabhängigen wie neutralen Ermittlungs- und Sanktionsbefugnissen Verbände und Vereine entlasten.

Auf Untersuchungen müssen Konsequenzen folgen können. Dieser Schritt ist wegen fehlender Durchgriffsrechte im Verbandssystem und limitierter Handlungsspielräume staatlicher Geldgeber bisher kaum möglich. Selbstverständlich müssten strafrechtlich relevante Vorfälle an staatliche Ermittlungsbehörden weitergeleitet werden. Abseits dessen könnte eine Schiedsgerichtsbarkeit über Fehlverhalten und Missstände urteilen und sportspezifische Sanktionen verhängen. Es sollte daher auch die Möglichkeit bestehen, Korrekturmaßnahmen, wie etwa die Behebung von Missständen und Fehlentwicklungen in Verbänden, verbindlich einzufordern. Auch Prozesse zur einvernehmlichen Konfliktlösung bzw. Mediation sollten aufgebaut werden.

3.3 Ganzheitliche Bearbeitung von Integritätsfragen innerhalb der Sportstrukturen

Auch innerhalb der Sportstrukturen könnten Integritätsfragen künftig ganzheitlich und evidenzbasiert bearbeitet werden – insbesondere im Präventionsbereich. Letztere muss weiter ausgebaut, professionalisiert und zur ganzheitlichen Begegnung von Integritätsrisiken ausgerichtet werden. Bisher werden für einige Integritätsbereiche beauftragte Personen benannt, z.B. im Bereich der Dopingprävention, der Prävention sexualisierter Gewalt oder Good Governance. Sie arbeiten teilweise ehrenamtlich, haben zu wenig Ressourcen bzw. Expertise oder vereinen zu viele Rollen und Funktionen in Personalunion. Dadurch werden andere Integritätsbereiche, wie etwa die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht von Verbänden, die (Mitbestimmungs-)Rechte von Athlet*innen oder Diskriminierungs- und Gleichstellungsfragen nicht oder kaum abgedeckt.

Ein ganzheitlicher und strategischer Ansatz zur verbandsseitigen Bearbeitung von Integritätsfragen im Sport ist kaum erkennbar. Schon aus Effizienz- und Kostengründen könnte es empfehlenswert sein, speziell geschultes Verbandspersonal für Integritätsfragen, etwa entlang der drei Integritätsbereiche (Schutz von Personen, Sportwettbewerben und Organisationen), auszubilden, statt benannte Personen Integritätsfragen nur partikular und damit ohne erkennbare Systematik im bestehenden Flickenteppich bearbeiten zu lassen. Damit die damit einhergehende Ausweitung des Aufgabenspektrums nicht auf Kosten der Tiefenbearbeitung einzelner Integritätsbereiche geht, müssten hierzu ein Ausbau und eine weitere Professionalisierung der Integritätsarbeit innerhalb der Sportstrukturen stattfinden. Entsprechende Investitionsbedarfe wären zu ermitteln.

3.4 Harmonisierung von Standards, unabhängige Überprüfung und Kopplung an Zuwendungen

Die hochwertige Bearbeitung von Integritätsfragen im Sport soll nicht von Region, Verband oder Sportart abhängen und nicht länger ein Flickenteppich ohne Steuerung, Systematik und entsprechendes Monitoring sein. Integritäts- und Menschenrechtsstrategien von Verbänden dürfen nicht nur von Freiwilligkeit, unverbindlichen Empfehlungen oder Anreizsystemen wie Eigenerklärungen abhängig sein, die höchstens auf Plausibilität, nicht aber auf Umsetzung, überprüft werden können. Die besten Konzepte sind nutzlos, wenn sie nur auf Papier existieren, nicht aber gelebt und umgesetzt werden. Daher müssen hohe Mindeststandards und deren Umsetzung durch die Dachorganisationen des Sports und staatliche Zuwendungsgeber bindend verankert werden. Eine funktionierende Integritätsarchitektur sollte Bedingung für die Gewährung staatlicher Sportförderung sein. Die Förderstrategie und -zusagen von Bund und Ländern sollten an überprüfbare Integritäts- und Menschenrechtsstrategien der Fördernehmer gekoppelt werden.

Hierzu bedarf es einheitlicher und hochwertiger Mindeststandards. Derzeit fehlt eine Vereinheitlichung der Standards, die von mehreren Akteuren, z.B. vom DOSB, BMI und PotAS vorgegeben werden. Solche Standards sollten von einer unabhängigen Instanz gesetzt, harmonisiert und auch auf Umsetzung überprüft werden. Dementsprechend könnte eine unabhängige Integritätsorganisation – in Zusammenarbeit mit den Strukturen des Sports – hochwertige Mindeststandards für die Bearbeitung von Integritätsfragen definieren, Unterstützung für Präventionskonzepte und Risikoanalysen anbieten sowie entsprechende Prozesse und zuständige Personen für Integritätsfragen im Sport zertifizieren. Sie könnte umfassendeEvaluierungen und Audits durchführen, um die Umsetzung, Lücken und Herausforderungen bei der Bearbeitung von Integritätsfragen innerhalb von Verbänden zu überprüfen und zu ermitteln. Die Organisationen des Sports könnten sich auf Grundlage solcher Evaluierungen stetig verbessern, weiterentwickeln und Lücken schließen. Staatliche Zuwendungsgeber hätten eine nie dagewesene Grundlage, um Zuwendungsentscheidungen zu treffen. Eine übergeordnete Integritätsorganisation könnte dann außerdem Lagebilder erstellen, Entwicklungen über die Zeit verfolgen und auf Trends reagieren.

3.5 Potenzialanalyse der derzeitigen Integritätsarchitektur als nächster Schritt

Aus unserer Sicht wäre eine umfassende Analyse der derzeitigen Integritätsarchitektur, ein Integrity Governance Review nach australischem Vorbild, ein erster Schritt, um die bestehende Integritätslandschaft im Sport in Deutschland einer Bestandsaufnahme zu unterziehen und entsprechend Lücken und Handlungsbedarfe zur Erfüllung eines Zielbilds zu identifizieren. Mit dieser analytischen Grundlage könnten umfassende Reformprozesse im Sinne einer ganzheitlichen Integritätsstrategie angegangen werden, statt das bestehende Stückwerk und siloartige Parallelentwicklungen ohne erkennbare Abstimmungen weiterhin zuzulassen. Die Prozesse rund um die Spitzensportreform, das Sportfördergesetz und das Zentrum für Safe Sport bieten hierbei wichtige Anknüpfungspunkte für die nahe Zukunft.

[1] Memmert et al. (2021) gehen davon aus, dass trotz dieser Bemühungen „die Prävention von Spielmanipulation in den meisten Sportarten bislang noch vernachlässigt wird.

[2] Wir verbinden mit dem weiteren Verfahren den Wunsch, die Menschenrechtsrisiken für Athlet*innen im Leistungs- und Spitzensport zu kartieren, offene Fragestellungen zu beantworten und entsprechende Handlungsbedarfe abzuleiten.

[3] Unsere Beobachtungen des Status quo teilen wir anonymisiert und abstrahiert. Sie bedeuten keine Pauschalisierung unzureichender Arbeit vieler engagierter Personen im Sport und sind auch nicht als solche gemeint. Vielmehr legen sie strukturelle Defizite des Sportsystems im Umgang mit Missständen offen.