Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung von Anlauf gegen Gewalt
Berlin, 16. Mai 2023. Athleten Deutschland e.V. bietet Betroffenen von physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt im Spitzensport seit 16. Mai 2022 mit „Anlauf gegen Gewalt“ eine unabhängige Anlaufstelle. Anlauf gegen Gewalt wurde unter Einbindung von Betroffenen und Expert*innen aufgebaut. Athleten Deutschland lässt die Arbeit der unabhängigen Anlaufstelle Anlauf gegen Gewalt fortlaufend wissenschaftlich begleiten. Im vorliegenden ersten Bericht zur Anlaufstelle wird der Zeitraum von 16. Mai bis 31. Oktober 2022 betrachtet.
Die wissenschaftliche Begleitung wurde durch das Heidelberger Institut für Sozial- und Verhaltenswissenschaften e.V., An-Institut der SRH Hochschule Heidelberg, unter der Leitung von Katharina Kärgel durchgeführt.
Im Folgenden fassen wir die wichtigsten Ergebnisse zusammen:
- Von Mitte Mai bis Ende Oktober haben sich 93 ratsuchende Personen an Anlauf gegen Gewalt gewandt.
- In 90,6 % der registrierten Hilfegesuche (N=53) wird Gewalt gegen Frauen berichtet.
- Gewaltbetroffene Personen stellen mit 58 % die größte Gruppe der Ratsuchenden dar. Bei etwa einem Drittel der Ratsuchenden (37,7 %) handelt es sich um Personen, die Gewalt beobachte(te)n, vermuten oder um die Gewalterfahrungen Dritter wissen.
- Das Gros der Hilfegesuche (N=72) stammt von Kaderathlet*innen (63,9 %). Dabei suchen aktive Kaderathlet*innen (30,6 %) gleichermaßen Rat bei Anlauf gegen Gewalt wie ehemalige Kaderathlet*innen (33,3%).
- Unter den 40 gewaltbetroffenen Ratsuchenden ist der Anteil aktiver Kaderathlet*innen und ehemalige(r) Kaderathlet*innen etwa gleich hoch.
- Zur Art der Gewalterfahrungen liegen in 64 Hilfegesuchen Informationen vor:
- psychische Gewalt: 86,4 %
- Grenzverletzung: 81,4 %.
- sexualisierte Gewalt ohne Körperkontakt (40,7 %) und mit Körperkontakt (23,7 %)
- Vernachlässigung: 37,3 %
- Formen digitaler Gewalt bzw. unter Einsatz digitaler Medien: 22 %
- Vorbereitungshandlungen (z.B. Anbahnung/Grooming): 15,3 %
- körperliche Gewalt: 10,2 %
- Diskriminierung (z.B. homophobe und/oder rassistische Beleidigung): 5,1 %
- Die klare Mehrheit der dokumentierten Hilfegesuche (N=63) bezieht sich auf vergangene Gewalterfahrungen: 14,3 % der geschilderten Gewalterfahrungen liegen maximal 12 Wochen, 27 % zwischen drei und 12 Monaten und 41,3 % mehr als ein Jahr zurück.
- In 38,6 % handelt es sich um eine einmalige Gewalterfahrung (N=57). Weit häufiger werden wiederkehrende Gewalterfahrungen im Sport (59,6 %) geschildert.
- Nahezu alle Gewaltwiderfahrnisse (N=70) wurden durch eine/n Einzeltäter*in verübt (91,7 %).
- In neun von 55 Gewaltwiderfahrnissen durch eine/n Einzeltäter*in (16,4 %) wurde auf eine hohe Anzahl Mitwissender innerhalb des Vereins-/ Verbandskontextes verwiesen.
- In 91,9 % der Hilfegesuchen (N=62) wird Gewalt durch Männer dokumentiert.
- Die von den Ratsuchenden geschilderten Gewalterfahrungen (N=68) werden größtenteils von Trainer*innen (75 %) verübt. Vereins- und Verbandsangehörige werden in 13,3 % der Hilfegesuche als Täter*innen benannt.
- Die Kontaktaufnahme mit Anlauf gegen Gewalt stellt für die meisten der Ratsuchenden (N=61) ein erstmaliges Hilfegesuch dar (86,9 %). Demgegenüber wird für 59,7 % der Hilfegesuche (N=62) ein zurückliegender Aufdeckungsversuch festgehalten.
Meist wünschen sich Ratsuchende psychosoziale Beratung. Die Gründe für das Hilfegesuch reichen von Informationsabfragen, Verweisen auf Nicht-Handeln Mitwissender, Fallschilderungen zwecks Aufdeckung oder Aufarbeitung, über psychosoziale Entlastung und erwünschte (Krisen-)intervention bis hin zur Übermittlung politischer Forderungen.
In vielen Fällen wurde dokumentiert, dass zuvor bereits Versuche unternommen wurden, erlebte oder wahrgenommene Gewalt aufzudecken. Diese Offenlegungsversuche erfolgten in den meisten Fällen in institutionellen Strukturen des Leistungssports. Sie scheiterten aus Perspektive der Betroffenen bzw. ihrer Unterstützer*innen nahezu ausnahmslos. Gründe dafür waren etwa, dass Verantwortliche die Gewalt bagatellisierten, dass Betroffenen die Schuld für die Gewalt unterstellt wurde oder dass Täter*innen die Gewalt dementierten. Gewaltbetroffene erlebten überdies infolge der Offenlegung auch negative Folgen für ihre Sportkarriere.
Anlauf gegen Gewalt füllt mehrheitlich die Funktion einer Erstanlaufstelle aus. Die primäre Zielgruppe von Anlauf gegen Gewalt, die Kaderathlet*innen, nimmt das Angebot in Anspruch. In der Wahrnehmung Betroffener und ihrer Unterstützer*innen wird Anlauf gegen Gewalt daher als ernstzunehmende Alternative zu sportinternen Strukturen wahrgenommen. Die Anlaufstelle ist unabhängig vom Sport und bietet ein breites Angebotsportfolio mit längerfristiger Begleitung und mit sportspezifischer Expertise. Athleten Deutschland, das natürliche Zuhause der Athlet*innen, initiierte das Projekt. Unter anderem deshalb scheint Anlauf gegen Gewalt als bereichsspezifisches, vertrauenswürdiges und qualifiziertes Hilfe- und Unterstützungsangebot wahrgenommen zu werden.
Zum kompletten „Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung von Anlauf gegen Gewalt“ gelangen Sie hier.
[1] 16 Hilfegesuche wurden aus der Analyse ausgeschlossen, z,B, Daueranrufe, Hilfegesuche von Täter:innen, Gesprächsabbrüche