Jahresbericht von Anlauf gegen Gewalt verdeutlicht Handlungsbedarf
Berlin, 31. Januar 2025. Athleten Deutschland hat am Freitag den zweiten Jahresbericht von Anlauf gegen Gewalt veröffentlicht. Seit Mai 2022 bietet der Verein mit seiner Initiative eine unabhängige Beratungs- und Anlaufstelle für Betroffene von physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt im Spitzensport. Im aktuellen Berichtszeitraum von Mai 2023 bis Mai des Folgejahres meldeten sich 85 Ratsuchende mit ihren Anliegen. Die Anlaufstelle hat seit Bestehen insgesamt über 280 Hilfegesuche dokumentiert. „Die Daten zeigen den weiterhin hohen Reformbedarf im Handlungsfeld Safe Sport und unterstreichen die Relevanz von Anlauf gegen Gewalt als zentrale Anlaufstelle im Spitzen- und Leistungssport. Die Athletinnen und Athleten nutzen unser Angebot aktiv und nehmen es als verlässliche, wichtige Unterstützung wahr”, sagt Nadine Dobler, Ansprechperson der Initiative. Die wissenschaftliche Evaluation der Daten erfolgte durch das Heidelberger Institut für Sozial- und Verhaltenswissenschaften (HDISV) e.V.
Wichtige Entwicklungen im Berichtszeitraum:
- Hohe Betroffenheit unter Bundeskaderathlet*innen: Etwas mehr als die Hälfte der Hilfegesuche stammt von Bundeskaderathlet*innen. Der Anteil an aktiven Kaderathlet*innen liegt mit 36,4 Prozent um zwölf Prozentpunkte über dem Vergleichswert des Vorjahres.
- Anstieg von gewaltbetroffenen Hilfesuchenden: Der Anteil gewaltbetroffener Ratsuchender ist im Vergleich zum Vorjahr um 10,3 Prozent gestiegen. Die Mehrheit (57,7 Prozent) ist direkt von Gewalt betroffen (Vorjahr: 46,4 Prozent).
- Deutlicher Anstieg bei männlichen Betroffenen: Der Anteil dokumentierter Gewalt gegen Jungen und Männer hat sich im Vergleich zum Vorjahr verdreifacht (von 18,5 auf 56 Prozent). Zudem hat sich der Anteil männlicher Ratsuchender fast verdoppelt (von 25,2 auf 45,1 Prozent). Dies ist ein Erfolg, da insbesondere im Spitzensport hohe Offenlegungshemmnisse für Jungen und Männer bestehen.
- Zunahme von Hilfegesuchen aus dem paralympischen Kader: 10,6 Prozent der Hilfegesuche betreffen Gewaltvorfälle im paralympischen Kader (Vorjahr: 2,1 Prozent). Dies zeigt, dass Anlauf gegen Gewalt zur Sichtbarmachung oft bagatellisierter Gewalt gegen Leistungssportler*innen mit Behinderung beiträgt.
- Viele Meldungen zu akutem Handlungsbedarf: 42 Prozent der Ratsuchenden berichten über aktuell stattfindende Gewalthandlungen. Dies unterstreicht die zentrale Rolle der Initiative in der Krisenintervention und Gewaltprävention. Zudem beziehen sich 62,5 Prozent der Fälle auf Gewalt in Kindheit und Jugend, wodurch Anlauf gegen Gewalt eine Schlüsselrolle im Kinder- und Jugendschutz des Leistungssports einnimmt.
- Erstes Hilfegesuch für viele Betroffene: Für 62 Prozent der Ratsuchenden stellt die Kontaktaufnahme mit Anlauf gegen Gewalt das erste Hilfegesuch dar. Die meisten Betroffenen suchen psychosoziale Entlastung und Beratung.
- Wunsch nach Aufarbeitung: 23,9 Prozent der Ratsuchenden geben an, dass ihr Hilfegesuch mit dem Wunsch nach Aufarbeitung früherer Gewalterfahrungen zusammenhängt.
- Gescheiterte Offenlegungsversuche im Sportsystem: 43,1 Prozent berichten, bereits versucht zu haben, Gewalt in Vereinen oder Verbänden aufzudecken – in den meisten Fällen jedoch ohne Erfolg. Dies zeigt, dass Betroffene oft auf Widerstand und fehlende Unterstützung stoßen.
- Strukturelle Barrieren für Betroffene im Sportsystem: Wiederholt wird auf betroffenenfeindliche Strukturen im Spitzen- und Leistungssport verwiesen. So heißt es etwa: „[…] bei der Weiterleitung an den Dachverband wurde mehr an den Verband und den Ruf gedacht als an die Betroffenen.“ Oder: „Problematisch ist derzeit, dass nach dem Rauswurf aus dem Landesverband andere Vereine an dem Trainer festhalten.“ Viele Ratsuchende äußern den Wunsch nach einer institutionellen Anerkennung von Gewalt im Spitzensport sowie nach einer Begleitung, die es ihnen ermöglicht, ihren Sport weiter auszuüben: „Ernstgenommen werden, wieder trainieren dürfen, an die Hand genommen werden von jemandem, dem sie vertrauen kann, um ihren Traumsport weiterzumachen.“
Sportpolitische Forderungen
Die wissenschaftliche Evaluierung von Anlauf gegen Gewalt setzt den Maßstab für die Erfassung und Auswertung von Meldeaufkommen im deutschen Sport. Nach diesem Vorbild muss ein systemweiter und einheitlicher Erhebungsstandard zur Dokumentation von Fehlverhalten und strukturellen Defiziten im Sport dringend eingeführt und umgesetzt werden.
„Die Erhebung solcher Daten muss sowohl durch sportinterne Anlaufstellen als auch durch externe Stellen erfolgen. Nur durch eine einheitliche Methodik lassen sich belastbare Aussagen über das Melde- und Fallaufkommen im gesamten Sport-Ökosystem treffen sowie Trends und strukturelle Defizite identifizieren. Ein solcher Standard würde erstmals eine systematische Vergleichbarkeit zwischen verschiedenen Anlaufstellen ermöglichen und die Grundlage schaffen, die Wirksamkeit von Unterstützungsangeboten zu bewerten und gezielt weiterzuentwickeln”, erklärt Maximilian Klein, stellvertretender Geschäftsführer bei Athleten Deutschland.
Klar ist auch: Anlauf- und Beratungsstellen wie Anlauf gegen Gewalt oder Safe Sport e.V. sowie sportinterne Stellen lösen die strukturellen Herausforderungen nicht, sondern lindern mit individueller Unterstützung lediglich Symptome. Beratungsstellen sind oftmals die Hände gebunden. Die Auswertung des Jahresberichts sowie jüngste Meldungen, etwa aus dem Turnsport, verdeutlichen, dass Bund, Länder und der organisierte Sport den eingeschlagenen Pfad hin zu einer umfassenden Safe Sport-Regulierung konsequent weiterverfolgen müssen.
Von Sport und Politik, insbesondere der nächsten Bundesregierung, erwartet Athleten Deutschland:
- Zügige Implementierung des Safe Sport Codes in allen Sportorganisationen.
- Konsequenter Aufbau des unabhängigen Zentrums für Safe Sport und Ausstattung mit ausreichenden Ressourcen.
- Ertüchtigung sportinterner Melde- und Fallbearbeitungsstellen, damit diese den Anforderungen einer wirksamen und betroffenensensiblen Fallbearbeitung gerecht werden.
- Ausarbeitung stringenter Empfehlungen zur Ausgestaltung von Zuständigkeiten inner- und außerhalb des Sportsystems, inklusive der Möglichkeit für Sportorganisationen, ihre Zuständigkeiten auf externe Organisationen, wie etwa das Zentrum für Safe Sport, zu übertragen.
- Entwicklung einheitlicher Standards für Intervention und Aufarbeitung durch das Zentrum für Safe Sport in Zusammenarbeit mit Stakeholdern des Sportsystems inklusive flächendeckender Umsetzung.
- Schaffung von Rechtssicherheit für Datenverarbeitung durch die Einführung bereichsspezifischer Datenschutzregelungen nach dem Vorbild des Antidopinggesetzes.
- Etablierung einer zentralen Sportschiedsgerichtsbarkeit als unabhängige Rechtsmittelinstanz für sportbezogene Streitigkeiten, insbesondere mit Menschenrechtsbezügen.
- Überarbeitung der Zuwendungsvoraussetzungen von Bund und Ländern und Einführung ganzheitlicher Integrität- und Menschenrechtsstandards als Bedingung für Fördermittel.
Hintergrundinformationen zu Anlauf gegen Gewalt: Die Anlaufstelle ist telefonisch unter 0800 90 90 444 (montags, mittwochs und freitags von 9.00 bis 13.00 Uhr, dienstags und donnerstags von 16.00 bis 20.00 Uhr) oder per E-Mail unter kontakt@anlauf-gegen-gewalt.org erreichbar. Neben telefonischer und/oder schriftlicher Beratung bietet die Initiative bei Bedarf auch psychotherapeutische und/oder rechtliche Erstberatung an. Der Erstkontakt ist selbstverständlich anonym möglich. Betroffenen steht zudem die Möglichkeit offen, von Expert*innen längerfristig und weitergehend begleitet und unterstützt zu werden.
Weitere Informationen:
- Pressemitteilung „Forderungskatalog von Athleten Deutschland zur Bundestagswahl“ (Dezember 2024)
- Pressemitteilung „Reaktion auf die Veröffentlichung des Safe Sport Codes“ (Oktober 2024)