Menschenrechte, Doping, Pressemitteilung

Sportpolitischer Rück- und Ausblick nach den Olympischen Winterspielen

Berlin, 19. Februar 2022. Die Olympischen Spiele in Beijing neigen sich dem Ende zu. Die Leistungen und sportlichen Erfolge der Athlet*innen haben uns begeistert. Wir beglückwünschen sie zu ihren beeindruckenden Ergebnissen und zollen ihnen unseren höchsten Respekt. Hinter der Teilnahme an den Olympischen Spielen und jeder sportlichen Höchstleistung stehen persönliche Geschichten, denen wir jeder einzelnen große Wertschätzung entgegenbringen.

Die desaströse Menschenrechtslage in China, Sicherheitsbedenken und die besonderen Umstände der Pandemie haben bereits im Vorfeld Schatten auf die Spiele geworfen. Wir sind beeindruckt vom Willen und Durchhaltevermögen aller Athlet*innen, die den Weg nach Beijing angetreten haben. Alle Athlet*innen werden voraussichtlich wohlbehalten nach Hause zurückkehren. Wir wünschen uns, dass sie auf ausreichend mentale Unterstützungsangebote zurückgreifen können, die im Nachgang von Karrierehöhepunkten – wie den Spielen – besonders wichtig sind.

Die Spiele in Beijing wurden in den vergangenen Wochen und Monaten zu Recht kritisch diskutiert. Auch wir haben uns zur menschenrechtlichen Lage in China, zur Verantwortung des IOC, von Staaten, Verbänden und Sponsoren ausführlich positioniert. Nach dem Fall Peng Shuai haben wir das IOC zudem in einer ausführlichen Analyse letztes Jahr aufgerufen, Farbe zu bekennen: Die mächtigste Organisation in der Welt des Sports muss seiner Fürsorgepflicht für Athlet*innen und seiner menschenrechtlichen Verantwortung endlich oberste Priorität einräumen.

Bereits vor den Spielen hat das IOC zahlreiche Chancen ausgelassen, seinen menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten zufriedenstellend und glaubwürdig nachzukommen. Außerdem haben sich Sorgen rund um unzureichende Quarantänebedingungen, verstärkte Zensuraktivitäten durch China oder Einschränkungen der Internet- und Pressefreiheit als berechtigt herausgestellt. Das IOC hat sich nicht entschieden genug von chinesischen Drohungen gegen kritische Äußerungen von Athlet*innen distanziert. Es hat der Gefahr vor Ausspähung und Spionage nicht glaubhaft einen Riegel vorschieben können, nicht zuletzt durch bekannt gewordene Sicherheitslücken in der My2022-App.

Mehrere Vorfälle bei den Spielen haben zudem deutlich gemacht, dass die Kultur des Schweigens beim IOC dringend beendet werden muss. Sie ist nach wie vor ungeeignet, gar kontraproduktiv, um die für den Sport schwierige Gratwanderung zu meistern, sich politisch nicht vereinnahmen zu lassen, völkerverständigend zu wirken und dabei seine Werte nicht zu verraten. Das fortwährende Schweigen des IOC zu schwersten Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in China verleiht diesen stille Akzeptanz. Im Umgang mit Peng Shuai und Taiwan hat sich das IOC der chinesischen Staatsführung angedient. Wie erwartet konnte China die Spiele als Plattform für seine Propagandazwecke nutzen, so auch gleich zu Beginn, als es eine uighurische Fackelläuferin für die Eröffnungsfeier wählte.

Die Athlet*innen sind die sichtbarste Gruppe bei den Spielen. Sie tragen allerdings keine Verantwortung für die Situation, in die sie das IOC manövriert hat, und können zum jetzigen Zeitpunkt kollektiv zu wenig gegenüber dem IOC und dem internationalen Verbandssystem bewirken. Zu Beginn der Spiele ist klar geworden, dass das IOC sie als Schauspieler in einem Theaterstück betrachtet, das es gemeinsam mit China aufführt. Athlet*innen sind betroffen von Entscheidungen, in die sie nicht eingebunden waren; sind selbst Menschenrechtsrisiken im Sport ausgesetzt.

Niemand unter den Athlet*innen muss sich zu den Umständen der Spiele äußern. Alle müssen aber das Recht haben, sich sicher und ohne Nachteile äußern zu können. Diese Position zur Meinungsfreiheit von Athlet*innen haben wir bereits ausführlich dargelegt. Manche haben von ihrem Recht Gebrauch gemacht. Wir haben Verständnis, wenn sich andere auch aus Selbstschutz zensiert haben. Wir sind enttäuscht, dass eine kontinuierlich kritische Flankierung der Spiele durch institutionelle Akteure wie Sponsoren oder Verbände weitgehend ausblieb. Eine Grundsatzposition des DOSB zur menschenrechtlichen Verantwortung des Sports im Allgemeinen und mit Blick auf die Spiele in China steht bis heute aus.

Die Spiele wurden zudem vom Fall einer mutmaßlich gedopten minderjährigen Eiskunstläuferin überschattet. Das internationale Sportsystem geht seit langem zu lasch und inkonsequent gegen die russische Dopingkultur vor. Es wäre unvorstellbar, dass eine gedopte Sportlerin aus Russland acht Jahre nach dem russischen Staatsdopingskandal eine Medaille bei Olympischen Spielen gewinnen kann. Sie selbst ist Leidtragende eines gnadenlosen Systems und muss nun den Preis ihrer Instrumentalisierung durch ihr Umfeld zahlen. Dort sind die Verantwortung und Schuld zu suchen, nicht bei der minderjährigen Athletin.

Ihr Fall macht traurig und wütend, weil Gewalt und grenzverletzende Trainingsmethoden, insbesondere in ästhetischen Sportarten, für keinen der Verantwortlichen eine Überraschung sein dürften. Wir befürworten, dass das Wettkampfalter dort, wo geboten,angehoben werden sollte. Wir begrüßen, dass das IOC diese Diskussion nun auch mit den Weltverbänden führen will. Auf internationaler Ebene müssen das IOC und die Verbände dringend Menschenrechtsstrategien umsetzen, um den Risiken für Menschen- und Kinderrechte im Sport proaktiv zu begegnen. Es sind zudem Mechanismen zu entwickeln, um mit Rechteverletzungen angemessen umgehen und Wiedergutmachung leisten zu können.

Verbände können nicht unabhängig agieren und unterliegen Interessenkonflikten. Der Umgang des IOC und der ISU im Fall der russischen Athletin hat zudem gezeigt, dass international nicht eingegriffen wird oder werden kann. Analog zur aktuellen Safe Sport-Debatte in Deutschland herrscht auch international organisierte Verantwortungslosigkeit im Sportsystem. Deshalb braucht es künftig auch auf dieser Ebene ein globales Regime[1] für Safe Sport, das die Rechte und den Schutz von Athlet*innen sichert, Betroffenen Unterstützung bietet und Befugnisse garantiert, einzugreifen, zu untersuchen und sportspezifisch zu sanktionieren. Dies ist insbesondere bei der Durchführung internationaler Wettbewerbe wichtig, aber auch dort, wo auf nationaler oder regionaler Ebene weder Staaten noch Verbände Athlet*innen ausreichend schützen.

Maßnahmen wie diese sind allerdings nicht ausreichend, um die inhärenten Systemkonflikte des internationalen und nationalen Spitzensports aufzulösen. Dieses System darf nicht länger Anreize bieten, Athlet*innen für sportlichen Erfolg auszubeuten und dabei deren Menschenrechte und insbesondere die Kinderrechte zu verletzen. Athlet*innen haben ein Recht auf bestmöglichen Schutz und einen humanen Spitzensport. Dafür ist ein tiefgreifender Kultur- und Strukturwandel nötig, der sich selbst in westlichen Ländern wie Deutschland schwierig gestaltet.

Das IOC muss die Vergabe und Durchführung dieser Spiele kritisch analysieren und sich einer offenen Debatte zur Zukunft der Olympischen Bewegung stellen. Die internationalen Verbände müssen ihrer menschenrechtlichen Verantwortung auf Basis der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte nachkommen. Es wird künftig rote Linien bei Vergabeentscheidungen geben müssen, deren Entscheidungskriterien auf Menschenrechtsstrategien fußen. Der bisherigeGigantismus muss glaubwürdigen Nachhaltigkeitskonzepten weichen. Im Weltsport muss echte Gewaltenteilung einkehren, mit einer unabhängigen Schiedsgerichtsbarkeit und unabhängigen Aufsichtsorganisationen, die konsequent gegen Doping, Korruption und Missstände vorgehen und für den Schutz und die Rechte von Athlet*innen eintreten. Für diesen Wandel sind demokratische Öffnungen und eine substanzielle Stärkung sowie Mitbestimmung unabhängiger Athletenvertretungen im Weltsport nötig. Staaten und Sponsoren müssen ihre Finanzierung des Sports konsequent an die Umsetzung dieser Reformvorhaben knüpfen.

Wir hoffen, dass die Winterspiele in Beijing zumindest noch als Wendepunkt in der Geschichte des Sports eingehen können.

[1] Siehe beispielhaft FINAL REPORT OF THE CONSULTATION PROCESS TO CONSIDER THE CREATION OF AN INTERNATIONAL SAFE SPORT ENTITY im Auftrag der FIFA vom Oktober 2021.