Gewalt und Missbrauch, Pressemitteilung, Schutz

Erste Reaktion zur Studie der Aufarbeitungskommission: Zentrum für Safe Sport mit Kapazitäten für Aufarbeitung ausstatten und Aufarbeitungsprozesse im Sport verbindlich machen.

Berlin, 27. September 2022. Am heutigen Dienstag veröffentlichte die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs die Fallstudie „Sexualisierte Gewalt und sexueller Kindesmissbrauch im Kontext des Sports“. Athleten Deutschland bedankt sich bei den Betroffenen, die ihre Geschichte mit der Kommission teilten, sowie den Autorinnen und allen Beteiligten der Studie. Die Studie bestätigt bisherige Studienergebnisse und geht über diese hinaus. Ihre Befunde erschüttern uns. Auch wir finden unsere anekdotischen Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Betroffenen in der Studie wieder.

Einmal mehr wird die Notwendigkeit einer unabhängigen Instanz, einem Zentrum für Safe Sport, sowie unabhängigen Anlauf-, Melde- und Untersuchungsmechanismen deutlich. Wieder wird klar, dass der Umgang mit Betroffenen und ihren Fallschilderungen innerhalb der Sportstrukturen unzureichend sein kann. Betroffenenzentriertes Handeln darf nicht länger vom persönlichen Engagement und der Integrität Einzelner abhängig sein, sondern muss strukturell – auch mit Hilfe eines unabhängigen Zentrums für Safe Sport – verankert sein.

Laut Studie (S. 129) bestünden in den professionalisierten Strukturen des Leistungssports „keinerlei objektive Anreize […], Missstände wie etwa sexualisierte Gewalt zu thematisieren und dagegen vorzugehen. […] Die Offenlegung von sexualisierter Gewalt […] ist zweifelsohne dazu geeignet, das System der Produktion von sportlichem Erfolg zu erschüttern, wenn nicht gar lahmzulegen. Dies wissen die Beteiligten, und dies führt zu Schweige- und Verdeckungszusammenhängen.“

Im Sport sind umfassende Aufarbeitungsprozesse vonnöten, die sich an den Empfehlungen der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs orientieren sollen. Dabei steckt das Thema Aufarbeitung im Sport erst am Anfang. Es gibt erste Aufarbeitungs-prozesse, Betroffenenbeiräte; die dsj entwickelt Leitlinien für Aufarbeitungsprozesse im Sport.

Maximilian Klein: „Verbände und Vereine müssen dringend dem Recht der Betroffenen auf Aufarbeitung entsprechen, das widerfahrene Unrecht anerkennen, es zum Thema der Gegenwart machen und weiteres Leid verhindern. Dafür müssen unabhängige und umfassende Aufarbeitungsprozesse angeschoben und Wiedergutmachung geleistet werden.“

Immer wieder machen wir allerdings die Erfahrung, dass einige Sportorganisationen weder fähig noch willens sind, betroffenenzentrierte, unabhängige Aufarbeitungsprozesse durchzuführen. Manche können oder wollen die Notwendigkeit für solche Prozesse nicht erkennen. Ihnen kann die nötige Kenntnis über die Bedeutung von Aufarbeitung fehlen. Manche verhindern diese, nicht zuletzt, um eigene Strukturen oder den Sport als Institution zu schützen. Andere sind überfordert; ihnen fehlen die relevante Expertise, Durchsetzungskraft oder finanziellen Ressourcen. Werden Aufarbeitungsprozesse nicht angemessen durchgeführt, können Betroffene Schaden nehmen und erneutes Leid erfahren.

Dabei dürfen unabhängige, transparente und betroffenenzentrierte Aufarbeitungsprozesse im Sport nicht vom freiwilligen Einsatz engagierter Einzelner abhängen. Das Recht von Betroffenen auf Aufarbeitung und Anerkennung des widerfahrenen Unrechts sollte von Dachorganisationen des Sports und der öffentlichen Hand als Zuwendungsgeberin mit bindenden Vorgaben für Aufarbeitungsprozesse durchgesetzt werden. Hierzu bedarf es nicht nur einer Sensibilisierung und Stärkung der Strukturen im Sport, sondern insbesondere auch von Betroffenen und ihrer Vertreter*innen.

Das aufzubauende unabhängige Zentrum für Safe Sport muss mit entsprechenden Kapazitäten und Befugnissen für Aufarbeitungsprozesse ausgestattet sein. Es sollte Expert*innen für interdisziplinäre Aufarbeitungsteams – auch im Hinblick auf den DDR-Sport – zertifizieren und koordinieren. Der organisierte Sport sollte insbesondere für Untersuchungen und Aufarbeitungsprozesse einen maßgeblichen finanziellen Beitrag leisten. Auch hier könnte das Zentrum eine entscheidende Rolle einnehmen, etwa in der unabhängigen Verwaltung und Nutzung solcher zweckgebundenen Mittel für Aufarbeitungsprozesse.

 

Zum Hintergrund

Eine Anhörung der Kommission vor etwa zwei Jahren, bei der zahlreiche Betroffene ihre Geschichten teilten, motivierte Athleten Deutschland, sich intensiver im Handlungsfeld Safe Sport zu engagieren und sich mit Erfolg für unabhängige Anlaufstellen und die Schaffung eines unabhängigen Zentrums für Safe Sport einzusetzen.

Durch die Auswertung von über 70 Fällen ist die Studie die erste ihrer Art, die sich derart systematisch mit der Erfahrungswelt betroffener Personen im Kontext des Sports widmet. Je 40 Prozent der Fallschilderungen fanden im Kontext des (Nachwuchs-)Leistungssports bzw. im wettkampforientierten Breitensport statt. Sie beleuchten nicht nur die historische und organisations- bzw. systemanalytische Perspektive. Der Fokus auf die individuell-biografische Perspektive gibt den Lebenswegen von Betroffenen und den Folgen des Missbrauchs bewusst Raum.