Ein neuer Gesellschaftsvertrag für den Spitzensport: Athleten Deutschland legt Analyse zur Gretchenfrage der staatlich geförderten Spitzensportentwicklung vor
Berlin, 15. August 2022. Athleten Deutschland fordert in der heute vorgelegten Analyse „Warum ist es uns das wert“ eine Grundsatzdebatte zur Zukunft des Spitzensports, in der die Ziele staatlicher Spitzensportförderung diskutiert werden.
„Wir Athletinnen und Athleten wissen, dass Erwartungen an unsere Förderung geknüpft sind. Diese wollen wir jetzt in einem breiten Dialog gemeinsam mit Politik, Wissenschaft, Praxis und der Bevölkerung neu festlegen. Den Wert sportlicher Höchstleistungen, wie aktuell nur an Medaillenerfolgen zu messen, greift zu kurz,“ sagte Karla Borger, Präsidentin von Athleten Deutschland.
Athleten Deutschland plädiert dafür, Spitzensport ganzheitlicher zu fördern. Es sollte geprüft werden, inwiefern positive Auswirkungen des Spitzensports auf die Gesellschaft bei der Förderung berücksichtigt werden können.
„Unsere Forderung ist keine Absage an das Bekenntnis zu sportlicher Höchstleistung. Es ist eine Ansage zur Stärkung des Spitzensports der Zukunft! Wir sind überzeugt, dass eine differenzierte Fördersystematik, die den gesellschaftlichen Nutzen stärker berücksichtigt, den Spitzensport tiefer in der Gesellschaft verankert und ihn damit langfristig stärkt. Davon können alle profitieren, insbesondere wir Athletinnen und Athleten und jene, die auf uns folgen,“ ergänzt Karla Borger.
Die Debatte zum Sinn und den Zielen der staatlichen Spitzensportförderung in Deutschland ist überfällig. Sie wurde über Jahre eingefordert, jedoch nie geführt. Jetzt, da zum wiederholten Mal über Strukturreformen des Spitzensports diskutiert wird, bietet sich die Chance erneut.
„Alle paar Jahre diskutieren wir über das Abschneiden Deutschlands in Medaillenspiegeln und, ob die steigenden Fördermittel gerechtfertigt sind. Wenn immer nur der Mitteleinsatz und die kumulierte Medaillenausbeute bei internationalen Wettbewerben nebeneinandergestellt werden, kann diese Diskussion in dieser vereinfachten Form nicht zufriedenstellend aufgelöst werden. Unsere Analyse soll einen ersten Beitrag liefern und eine Diskussion zu dem tatsächlichen und gewünschten Wert sportlicher Höchstleistungen in unserer Gesellschaft entfachen,“ sagt Maximilian Klein, Mitautor des Papiers.
Klein weiter: „In Deutschland richtet sich die Förderung maßgeblich an internationalen sportlichen Erfolgspotenzialen und nicht am Potenzial zur Gemeinwohlsteigerung aus. Beide Ziele können einander bedingen und aufeinander einzahlen, sie gehen aber nicht automatisch miteinander einher. Eine undifferenzierte Betrachtung von absoluten Erfolgszielen als Basis für Förderentscheidungen ist nur bedingt geeignet, um die wohlfahrtssteigernden Potenziale von Spitzenleistungen der Athletinnen und Athleten zu heben. Es gilt daher, sportpolitische Rhetorik, Evidenz zum gesellschaftlichen Nutzen des Spitzensports und formale Ziele der Spitzensportentwicklung in Einklang zu bringen. So könnte der Spitzensport die Wirkung entfalten, die ihm so oft zugeschrieben wird.“
Johannes Herber, Geschäftsführer von Athleten Deutschland: „Grundsätzlich sollten alle Athletinnen und Athleten des Spitzensports optimale Bedingungen erhalten, damit sie persönliche Bestleistungen erzielen können. Müssen aber Verteilungsentscheidungen getroffen werden, sollten die Athletinnen und Athleten die Möglichkeit haben, die zugrundeliegenden Kriterien mitzugestalten. Neue Kriterien, die neben dem sportlichen Erfolg auch den gesellschaftlichen Nutzen erfassen, würden die Förderung ganzheitlicher machen.“
„Weil andere Nationen auch massiv in Spitzensport investieren, manche Athletinnen und Athleten dopen oder ohne Rücksicht auf Verluste gedrillt werden, ist es schwierig in manchen Disziplinen noch mitzuhalten. Auch deshalb sind Kriterien nötig, die individuellen Leistungssteigerungen und Gemeinwohlpotenziale höheren Wert beimessen. Oft ist es die Kombination aus sportlicher Leistung, Persönlichkeit und die dahinterstehende Geschichte der Athletinnen und Athleten, die die Menschen inspiriert und in Erinnerung bleibt„, so Herber.
Athleten Deutschland schlägt deshalb eine neue gesellschaftliche Verständigung zu den Zielen des staatlich geförderten Spitzensports vor. Diese offene und ehrliche Diskussion soll alle Beteiligten einschließen: Athlet*innen, Verbände, Politik, Medien und die Menschen, die Spitzensport erreichen soll und die ihn nachfragen – Zuschauer*innen, Sporttreibende, Fans, Steuerzahler*innen. Am Ende dieses Prozesses könnte ein neuer Gesellschaftsvertrag – gar ein Sportfördergesetz – für den Spitzensport stehen; eine Übereinkunft, hinter der sich alle versammeln können.
Ein solcher Prozess böte sich als erster Umsetzungsschritt des gerade entstehenden Konzepts des Bundesministeriums des Innern und für Heimat zur Neuaufstellung der Spitzensportförderung an. Eine Einigung über die Ziele der Förderung ist aus Sicht von Athleten Deutschland erforderlich, bevor über weitere Strukturreformen entschieden werden kann. Die Bearbeitung anderer Handlungsfelder wäre parallel dennoch möglich. Kurzfristige Handlungsbedarfe könnten abgedeckt werden, ohne von der Grundsatzdebatte blockiert zu werden. Dazu zählen die verschiedenen Problemstellungen rund um die Integrität des Sports, die Evaluierung von Mittelverteilungsmechanismen sowie grundlegende Gelingensbedingungen für die Athlet*innen im Spitzensport, damit diese ihr sportliches und persönliches Potenzial optimal entfalten können. Letzterer Thematik wird sich Athleten Deutschland im Rahmen eines breiten und inklusiven Beteiligungsprozesses mit den Athlet*innen und weiteren Stakeholdern im Herbst und Winter widmen.