Gewalt und Missbrauch, Schutz

Stellungnahme: Physische, psychische oder sexualisierte Gewalt gegen Sportlerinnen und Sportler

Berlin, 5. Mai 2021.

Einleitung
Sehr geehrte Frau Ausschussvorsitzende, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

Athleten Deutschland hat sich den drei strategischen Säulen Stimme, Schutz und Perspektive verschrieben. Für unsere Mitglieder, die Athlet*innen im Leistungssport, und selbstverständlich vorgelagert im Breitensport wollen wir einen gewalt- und missbrauchsfreien Sport.2 Leider stellen psychische, physische und sexualisierte Gewalt und Missbrauch im Sport ein weitverbreitetes Problem dar. Vereine und Verbände müssen ein sicheres Umfeld für junge Menschen bieten, dem Eltern ihren Nachwuchs ohne Bedenken anvertrauen können. Hierfür ist ein ernst gemeinter und athleten- sowie betroffenenzentrierter Struktur- und Kulturwandel nötig. Sport, Politik und Zivilgesellschaft sind für dessen Bewältigung gemeinsam verantwortlich.

Seit dem Öffentlichen Hearing der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs am 13. Oktober 2020 widmen wir uns intensiv und strukturiert dem Themenfeld Gewalt und Missbrauch im Sport. Nach einem ersten Analyseprozess und dem Austausch mit unseren Mitgliedern, mit Betroffenen von Gewalt und Missbrauch im Sport und mit weiteren Expert*innen im In- und Ausland haben wir im vergangenen Februar ein Impulspapier mit Anregungen für ein Unabhängiges Zentrum für Safe Sport veröffentlicht.

Wir sind zu der Überzeugung gelangt, dass es im Handlungsfeld Safe Sport entlang der Säulen Risikoanalyse, Prävention, Intervention und Aufarbeitung bestimmte Aufgaben- und Kompetenzbereiche gibt, die zwingend unabhängig begleitet bzw. durchgeführt werden müssen. Eine externe, finanziell und personell gut ausgestattete sowie unabhängige Organisation wie ein Zentrum für Safe Sport kann ein wichtiger Baustein eines größeren Strukturwandels sein, der in eine rahmende Nationale Strategie gegen Gewalt und Missbrauch im Sport eingebettet werden könnte.

Neben unserem Einsatz für ein Zentrum für Safe Sport und der notwendigen Struktur- und Governancedebatte werden wir auch verstärkt direkt von Betroffenen auf verschiedenen Wegen kontaktiert. Die unterschiedlichen und individuellen Fallkonstellationen und Gewalterfahrungen führen uns jedes Mal aufs Neue vor Augen, welche fundamentalen strukturellen und kulturellen Herausforderungen im Umgang mit Fällen von Gewalt- und Missbrauch vorherrschen. Unsere eigene Auseinandersetzung mit diesem Thema auf Fallebene verdeutlicht uns nicht nur die Tragweite dieses Problems, sondern zeigt vor allem akuten Handlungsbedarf im Bereich der Intervention und Aufarbeitung auf: Es bedarf dringend einer unabhängigen Anlaufstelle, die künftig Teil eines größeren Zentrums für Safe Sport mit mehreren Kompetenz- und Handlungsfeldern sein könnte.

Vor diesem Hintergrund ist es für uns ein Lichtblick, dass unsere Überlegungen für ein Unabhängiges Zentrum für Safe Sport auf breiten Zuspruch verschiedenster Akteure treffen – von Wissenschaft, Praxis, Politik, Betroffenen und Sportverbänden.

Im Folgenden skizzieren wir in aller Kürze

  • den Hintergrund eines übergeordneten Zentrums für Safe Sport,
  • strukturelle Problem- und Fragestellungen entlang der Handlungsfelder Risikoanalyse, Prävention, Intervention und Aufarbeitung
  • sowie unsere Ableitungen für mögliche Handlungsbereiche eines Unabhängigen Zentrums für Safe Sport

Hintergrund zum Zentrum für Safe Sport
Bestimmte strukturelle und kulturelle Merkmale des Sports können sich nachteilig auf effektive Prävention, Intervention und Aufarbeitung von Gewalt und Missbrauch auswirken. Diese können zum Beispiel persönliche Beziehungsgeflechte, familiäre Nähe, falsch verstandene Loyalitäten und sich ergebende Interessenkonflikte sowie ungleiche Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Schutzbefohlenen und Autoritätspersonen sein.

Solche systemimmanenten Herausforderungen sind für Sportorganisationen von innen und aus eigener Kraft heraus kaum auflösbar. Sie sollten bei der Lösung Unterstützung erhalten. Betroffene von Gewalt und Missbrauch brauchen zudem dringend eine unabhängige und zentrale Anlaufstelle, von der sie Beratung erhalten und Unterstützung vermittelt bekommen.

Dass ähnliche Diskussionen in vielen anderen Ländern, wie zum Beispiel in den USA, Kanada, Großbritannien aber auch in den Niederlanden, der Schweiz und Belgien, geführt wird, bestärkt uns in unserem Impuls. Dadurch können wir auch aus Fehlern lernen, bewährte Verfahren adaptieren und es in Deutschland besser machen.

Die bisherige Landschaft aus Akteuren und Kompetenzträgern im Kampf gegen Gewalt und Missbrauch stellt sich sowohl innerhalb als auch außerhalb des Sports als diffus und verteilt dar. Wir sollten uns nicht mit kleinschrittigen, ineffektiven und nicht aufeinander abgestimmten Vorhaben und Einzelmaßnahmen zufriedengeben. Das aktuelle System ist zerfasert und seine Akteure agieren teils isoliert und unkoordiniert.

Es gibt keine übergeordnete Instanz mit „Feldkenntnis“ und sportspezifischer Expertise, die die Fäden zusammenführt und koordiniert; die unabhängig, kompetent und personell wie finanziell gut ausgestattet als zentrale Anlauf- und Kompetenzstelle für den Bereich Gewalt und Missbrauch im Sport fungiert. Eine externe und unabhängige Organisation kann daher ein zentraler Baustein im Kampf gegen Gewalt und Missbrauch im Sport sein.

Wir haben jetzt also die einmalige Chance, die Governance im Bereich Safe Sport frei von Zwängen so zu denken, wie sie sein sollte. Deutschland kann damit auch eine weltweite Vorreiterstellung im Bereich Safe Sport einnehmen. Das sollte unser aller Anspruch sein, der auch die notwendigen finanziellen Anstrengungen rechtfertigt.

Finanzierungsfragen müssten so gelöst werden, dass die Unabhängigkeit des Zentrums für Safe Sport zu jeder Zeit gewährleistet ist. Unter dieser Bedingung wäre eine anteilige Finanzierung seitens des Sports, des Bundes und der Länder in Erwägung zu ziehen.

Wichtig ist, dass ein Zentrum für Safe Sport nach außen hin stets unabhängig im Verhältnis zum organisierten Sport agiert. Nach innen hin wäre die Untergliederung in getrennte Geschäftseinheiten entlang der Säulen Prävention, Intervention und Aufarbeitung denkbar. Diese Geschäftseinheiten könnten ebenfalls intern mit „Firewalls“ voneinander abgetrennt sein, um etwa die Belange von Betroffenen nicht mit Belangen von Verbänden oder Vereinen zu vermischen. Ein strukturierter Austausch zwischen den Einheiten könnte zu wertvollen Lerneffekten führen. So könnten beispielsweise die gewonnen Erkenntnisse aus der Intervention und Aufarbeitung zur stetigen Verbesserung der Risikoanalyse und Prävention genutzt werden.

Ein Unabhängiges Zentrum für Safe Sport könnte somit als Wissens- und Policy-Plattform fungieren, die im Zusammenspiel und interdisziplinär Wissen mit Akteuren in- und außerhalb des Sports sammelt, aufbaut, Best-Practices zugänglich macht und mit den Erfahrungen seiner eigenen Arbeit angepasste Maßnahmen und Policy-Empfehlungen im Themenkomplex Gewalt und Missbrauch im Sport ableitet – für den Sport, aber auch für die Politik und Zivilgesellschaft.

Wir verstehen unsere Überlegungen als Impuls, der nicht alle Fragen- und Problemstellungen beantworten kann und dem nun eine Machbarkeitsprüfung und eine Grobkonzeptionierung folgen müsste. In diesem Rahmen und in weiteren Schritten könnten dann inhaltliche, finanzielle und rechtliche Fragen geklärt werden – unter der Prämisse, dass diese Prozesse mit Betroffenenbeteiligung und unter möglichst breitem Einbezug relevanter Akteure stattfinden.

Die Schaffung einer solchen Organisation entbindet den organisierten Sport als Institution damit keinesfalls von seiner Verantwortung und seiner Fürsorgepflicht. Die internen Strukturen des Sports müssen ebenfalls gestärkt werden. Für den notwendigen kulturellen Wandel und eine flächendeckende Kultur des Hinsehens und Handelns sind alle Beteiligten gleichermaßen verantwortlich.

Erste Säule: Risikoanalyse und Prävention
Ausgangslage

  • Die Präventionsarbeit ist und bleibt Aufgabe der Verbände und Vereine. Sie ist Teil ihrer Fürsorgepflicht.
  • Die Stufenmodelle von dsj und DOSB sowie die BMI-Eigenerklärung knüpfen die Geldmittelvergabe an Präventionsmaßnahmen. Das sind wichtige und richtige Schritte.
  • Allerdings wird die tatsächliche Umsetzung solcher Maßnahmen keinem unabhängigen Monitoring- oder Auditsystem unterzogen.
  • Fraglich ist, wie die hochwertige Qualifizierung von internen Ansprechpersonen und Präventionsbeauftragten sichergestellt wird und welche Stelle diese Qualifikationsanforderungen definiert.
  • Fraglich ist, wie Mindestanforderungen und Ausbildungsstandards externer Berater*innen für Verbände und Vereine zur Erstellung von Risikoanalysen und Schutzkonzepte definiert werden und welche Stelle diese Qualifikationsanforderungen definiert.
  • Fraglich ist, wie ein vergleichbares und qualitativ hochwertiges Niveau von Schutzmaßnahmen in Verbänden und Vereinen sichergestellt Schutzkonzepte sind keine statischen Maßnahmen, sondern Prozesse, die Weiterentwicklung und dementsprechend Evaluierung und Unterstützung von außen bedürfen.

Was könnte ein Zentrum für Safe Sport im Handlungsbereich der Risikoanalyse und der Prävention tun?

  • Ein Zentrum für Safe Sport soll nicht die Präventionsarbeit des organisierten Sports übernehmen.
  • Ein solches Zentrum wird nicht in der Lage sein, das komplexe Aufgabenspektrum im Kampf gegen Gewalt und Missbrauch zentral zu bewältigen. Hierfür bleibt der Rückgriff auf und die Stärkung lokaler und regionaler Kompetenzträger*innen nach wie vor unerlässlich.
  • Es könnte Aufgaben im Bereich der Koordinierung, des Monitorings, der Auditierung, der Zertifizierung und Standardsetzung übernehmen. Dadurch werden auch sportinterne Ressourcen durch externe Kompetenzbündelung ergänzt und gestärkt.
  • Ein externes Monitoring- und Auditsystem würde die vereins- und verbandsinterne Präventionsarbeit und vor allem zuständige Ansprechpersonen/Präventionsbeauftragte durch die Begleitung über einen längeren Zeitraum hinweg stärken. Es könnte helfen, die verbands-und vereinsinterne Legitimation interner Stellen zu erhöhen und Prävention als Qualitätsmerkmal von Sportorganisationen positiv zu besetzen.
  • Ein Zentrum für Safe Sport könnte externe Berater*innen für Risikoanalysen und Schutzkonzeptentwicklung zertifizieren und damit entsprechende Mindeststandards Ein solches Netzwerk aus unabhängigen Berater*innen für Sportorganisationen könnte ebenfalls zumindest von übergeordneter Stelle von einem Zentrum für Safe Sport koordiniert werden.
  • Das Zentrum könnte ferner Mindeststandards für Aus- und Weiterbildung für vereins- und verbandsinterne Stellen setzen und entsprechende Qualifizierungsangebote koordinieren zertifizieren.

Zweite Säule: Intervention
Ausgangslage

  • Im (Leistungs-)Sport gibt es keine hinreichend unabhängigen sowie glaub- und vertrauenswürdigen Anlaufstellen für Betroffene von Gewalt und Missbrauch. Benannte Stellen des Sports werden oft nicht als unabhängig, vertrauens- und glaubwürdig wahrgenommen.
  • Aus Betroffenensicht sind interne Ansprechpersonen oft der Institution zuzuordnen, der auch Täter*innen angehörten angehören. Sie unterliegen schon deshalb Interessenkonflikten, weil sie im Zweifel zwischen Verbands-, Arbeitgeber- und Betroffeneninteressen stehen.
  • Viele direkt und indirekt Betroffene schrecken davor zurück, sich beim eigenen Verband oder dem Sport zugeordneten Ombudsstellen zu Sie haben beispielsweise Angst davor, kein Gehör zu finden, nicht geschützt zu werden oder nicht anonym bleiben zu können. Betroffene fürchten ferner, dass man ihnen nicht glaubt, dass nicht gehandelt wird oder dass sie etwaig entstehende Konsequenzen für die Meldung von (Verdachts-)Fällen allein tragen müssen.
  • Es kann  vorkommen,   dass   Betroffene   an   kompetente   Ansprechpartner*innen„weiterempfohlen“ werden, was innerhalb eines informellen Netzwerkes geschieht. Dieser Prozess ist weder strukturiert noch gibt es ein zentrales Monitoring zu den genauen Fallzahlen. Es kann daher also auch einfach „Glück“ oder zufällig sein, durch Umwege an kompetente juristische und/oder psychosoziale Unterstützung zu geraten.
  • Spezialisierte Fachberatungsstellen leisten elementar wichtige Arbeit. Sie sind aber weder flächendeckend finanziert noch haben sie breite Expertise im Bereich des Sports. Zudem beschränken sich Fachberatungsstellen oftmals auf sexualisierte Gewalt. Sie müssen dringend finanziell gestärkt werden.

Was könnte ein Zentrum für Safe Sport im Handlungsbereich der Intervention tun?

  • Ein Unabhängiges Zentrum für Safe Sport kann als vertrauens- und glaubwürdige sowie breit kommunizierte Anlaufstelle für Betroffene und ihr Umfeld bei (Verdachts-)fällen von psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt und Missbrauch fungieren. Es könnte notwendige Erstberatung zu interpersonalen Gewalterfahrungen bieten sowie psychosoziale und juristische Unterstützung vermitteln.
  • Das Zentrum soll dabei nicht lokal und regional anfallende Aufgaben erledigen, sondern einen koordinierenden und zentralen Überbau einer aktuell diffusen und verteilten Akteurslandschaft darstellen. Es sollte im Zusammenspiel mit bereits bestehenden Kompetenzträger*innen auf lokaler und regionaler Ebene sowie Institutionen, Verbänden und Vereinen koordinierend und netzwerkbasiert agieren. Ferner könnte es wichtige Expertise zum Umgang mit interpersonalen Gewalterfahrungen im Sport an lokale und regionale Kompetenzträger*innen vermitteln und damit in Funktion als „Wissens-Hub“ regionale Kompetenzträger*innen stärken.
  • Zudem könnte ein Zentrum für Safe Sport die zuständigen Personen der Sportorganisationen bei einer professionellen und unabhängigen Untersuchung eines (Verdachts-)falls unterstützen.
  • Für den Interventionsfall und im Rahmen eines nationalen Fallmanagement-Systems ist etwa der Aufbau verschiedener Netzwerke mit klar definierten Abläufen und Arbeitsteilungen zu empfehlen.
  • Mögliche Durchgriffs- und Sanktionsmöglichkeiten und eine Art Schiedsstellenfunktion eines Zentrums für Safe Sport wären zu prüfen.

Dritte Säule: Aufarbeitung
Ausgangslage

  • Eine ehrliche und tiefgreifende Aufarbeitung der Vorgänge innerhalb der Sportorganisation zeigt die Verantwortungsübernahme für die Vergangenheit, entspricht dem Recht der Betroffenen auf Aufarbeitung und Anerkennung und ist zentrale Voraussetzung dafür, dass die Organisationen nach Vorfällen wieder konstruktiv arbeiten können.
  • Der organisierte Sport und seine Verbände haben eine institutionelle Verantwortung für die systematische und flächendeckende Aufarbeitung von Gewalt und Missbrauch in ihren Gleichzeitig wird im organisierten Sport die Aufarbeitung von Fällen von Gewalt und Missbrauch aus der Vergangenheit in Deutschland bislang gar nicht bzw. nur in Einzelfällen angegangen.
  • Aufarbeitung sollte dabei immer unabhängig von der jeweiligen Institution erfolgen zumindest unabhängig begleitet werden.
  • Wesentlicher Treiber für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und sexuellen Missbrauchs in Deutschland sind Betroffene und seit 2016 die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.
  • Die Kommission ist allerdings nicht die geeignete Struktur, um verbandsspezifische und flächendeckende Aufarbeitungsprojekte im Sport zu leisten. Ihr Mandat ist mit einer Laufzeitverlängerung bis 2023 zeitlich beschränkt angelegt, bezieht sich explizit auf sexuellen Kindesmissbrauch sowie sexuelle Gewalt im familiären Umfeld und erstreckt sich auf verschiedene Institutionen unserer Gesellschaft. Sie kann und soll keine systematische wie flächendeckende Aufarbeitung in den jeweiligen Institutionen

Was könnte ein Zentrum für Safe Sport im Handlungsbereich der Aufarbeitung tun?

  • Es könnte Anlaufstelle für Betroffene von vergangenen Gewalt- und Missbrauchsfällen sein (vgl. Empfehlungen der Kommission). Neben relevanter Beratung und Betreuung könnte es Betroffene auch B. beim Zugang zu bestehenden Unterstützungs- und Wiedergutmachungssystemen unterstützen.
  • Ein Zentrum für Safe Sport könnte ferner ein Netzwerk aus Expert*innen aufbauen und koordinieren, die Aufarbeitungsprojekte von Verbänden und Vereinen unabhängig durchführen oder begleiten.