Menschenrechte, Doping, Gewalt und Missbrauch, Pressemitteilung

ZUSAMMENFASSUNG: Skizzen eines Paradigmenwechsels: Für eine Neuaufstellung der Integritäts-Governance im deutschen Sport

Berlin, 9. Dezember 2021. Der Schutz seiner Integrität ist eine Kernaufgabe des Sports. Es gilt, Menschen, Wettbewerbe und Sportorganisationen vor Gefährdungen zu bewahren und auftretenden Missständen effektiv zu begegnen. Das sind komplexe Herausforderungen, die ganzheitlich, systematisch und strategisch bewältigt werden müssen. Mit den vorliegenden Skizzen zu einer Nationalen Integritätsagentur und einem unabhängigen Melde-, Untersuchungs- und Sanktionsmechanismus unterbreiten wir dafür einen Vorschlag.  

Wir zeichnen die Umrisse eines harmonisierten Integritätssystems, das Präventionsmaßnahmen flächendeckend sowie überprüfbar umsetzt und effektiv gegen Missstände und Integritätsverletzungen vorgeht. In diesem System haben alle beteiligten Akteure – öffentliche Zuwendungsgeber, Dach- und Mitgliedsorganisationen des Sports, eine unabhängige Integritätsagentur sowie Anlauf- und Beratungsstellen für Betroffene – eine ausdifferenzierte Rolle inne, die sie frei von Interessenkonflikten ausüben. Wir stellen klar: Dieser Vorschlag ist kein Gegenentwurf oder Widerspruch zu einem Zentrum für Safe Sport. Er ist vielmehr eine langfristige Erweiterung, denn die strukturellen Defizite im Bereich Safe Sport finden sich ähnlich in anderen Integritätsfeldern wieder.  

Diese Erkenntnis beruht auf den Erfahrungen aus der Bearbeitung von Fällen unserer Mitglieder und den im Jahr 2021 zahlreichen öffentlich gewordenen Vorwürfen und Missständen in der Verbandslandschaft. Wir wollen nicht pauschalisieren und die gute Arbeit vieler engagierter Personen zu Unrecht in Abrede stellen. Aber unsere Beobachtungen zeigen, dass der Umgang mit Meldungen und Missständen unangemessen ist, dass Diskriminierungserfahrungen und Menschenrechtsrisiken im Sport unzureichend begegnet wird, und dass die Mitbestimmungsrechte von Athlet*innen eingeschränkt werden. Ombudssysteme und Ethikkommissionen setzen dem wenig entgegen. Sie sind entweder überfordert oder gar nicht zuständig. 

Es fehlt ein sicherer Mechanismus, um Missstände aufzuklären, unabhängige Untersuchungen einzuleiten und möglicherweise Konsequenzen folgen zu lassen. Die Autonomie des Sports und der Verbände blockiert Durchgriffsmöglichkeiten und führt damit zu Systemversagen. Zuständigkeiten bleiben ungeklärt und Verantwortung wird zwischen verschiedenen Institutionen hin- und hergeschoben. Niemand vermag einzuschreiten. Die Ohnmacht, nichts ausrichten zu können, richtet fortwährend Schaden an und frustriert Beteiligte auf allen Seiten – bei Betroffenen, engagierten Personen in Verbänden und uns. 

In Summe mussten wir feststellen, dass das Sportsystem in seiner jetzigen Form überwiegend nicht dazu in der Lage ist, die Menschen in seinem Wirkungskreis zu schützen und kompetent, glaubwürdig sowie effektiv gegen Missstände vorzugehen. 

Eine Neuaufstellung der Integritäts-Governance und ein einhergehender Paradigmenwechsel sind deshalb unerlässlich. Seinen systemimmanenten Defiziten muss der organisierte Sport mit Strukturreformen und einer Gewaltenteilung begegnen. Vielerorts beobachten wir den Trend, Fragen der Integrität des Sports ganzheitlich und verzahnt zu bearbeiten – idealerweise durch Organisationen, die unabhängig vom Sport sind. Deshalb sollte aus unserer Sicht geprüft werden, ob eine starke und unabhängige Nationale Integritätsagentur aufgebaut werden soll, statt für jeden Integritätsbereich siloartig auf eigenständige Organisationsstrukturen zu setzen. 

Die in unserem Impulspapier vom Februar 2021 abgeleiteten Funktionen eines Zentrums für Safe Sport könnten perspektivisch in eine größere Integritätsorganisation eingegliedert werden. Aufgaben, insbesondere im Bereich Prävention (Standardsetzung, Zertifizierung, Auditierung) sowie Intervention (Meldung, Untersuchung, Sanktionierung) ließen sich darin auf Bereiche abseits interpersonaler Gewalt ausweiten. Dazu gehören Diskriminierungs- und Gleichstellungsfragen, die Rechte von Athlet*innen sowie Good Governance in Sportorganisationen. Die NADA und/oder die Nationale Plattform zur Bekämpfung der Manipulation von Sportwettbewerben könnten als Geschäftsbereiche integriert werden. 

Diese modulare Eingliederung könnte in einem Stufenplan priorisiert und zeitlich versetzt umgesetzt werden. So kann der aktuelle und dringliche Fokus auf Safe Sport beibehalten werden – ohne die langfristige Perspektive eines ganzheitlichen und umfassenden Integritätssystems aus den Augen zu verlieren. 

Das Fundament einer übergeordneten Integritätsorganisation wäre die Dreiteilung aus Melde-, Untersuchungs- und Sanktionsfunktion zur Wahrnehmung von Interventionsaufgaben in verschiedenen Integritätsbereichen. Beispiele aus dem Ausland zeigen, dass ein einheitlicher Melde-, Untersuchungs- und Sanktionsmechanismus hochspezialisierte und multidisziplinäre Expertise an zentraler Stelle bereitstellen bzw. diese zumindest koordinieren kann – und damit Verbände entlastet.   

Auch innerhalb der Sportstrukturen könnten Integritätsfragen künftig ganzheitlich und evidenzbasiert bearbeitet werden – insbesondere im Präventionsbereich. Eine unabhängige Integritätsagentur könnte qualitativ hochwertige Mindeststandards für die Präventionsarbeit definieren und Präventionskonzepte, Risikoanalysen sowie zuständige Personen für Integritätsfragen im Sport zertifizieren. Sie könnte die Umsetzung von Präventionsmaßnahmen überprüfen und Herausforderungen für Verbände ermitteln. Die Organisationen des Sports könnten sich mittels solcher Evaluierungen weiterentwickeln und existierende Lücken schließen. Diese Audits böten den staatlichen Zuwendungsgebern eine nie dagewesene Grundlage, um Zuwendungsentscheidungen zu treffen. 

Über den zentralen Kontaktpunkt einer übergeordneten Integritätsorganisation könnten Betroffene direkt und unkompliziert an externe Beratungs- und Unterstützungsangebote in einem definierten und sicheren Prozess verwiesen werden. Als natürliches, von Verbänden unabhängiges Zuhause der Athlet*innen sind wir geeignet, Anlauf- und Beratungsstelle für interpersonale Gewalt und Missstände im Spitzensport zu werden. Daher haben wir in den vergangenen Monaten intensive Bemühungen und Planungen angestellt, um eine entsprechende Anlaufstellen- und Erstberatungsfunktion bei Athleten Deutschland aufzubauen.  

Sowohl unserem Impuls für ein Zentrum für Safe Sport als auch den vorliegenden Skizzen für eine Nationale Integritätsagentur liegt durch die Einführung einer Gewaltenteilung im Sport ein Paradigmenwechsel zugrunde, für dessen Gelingen die Unterstützung und Akzeptanz des organisierten Sports zwingend nötig sind. Es ist deshalb wichtig, dass alle Beteiligten, innerhalb und außerhalb des Sports, sich dem speziellen Themenfeld Safe Sport und dem breiteren Handlungsfeld der Integrität des Sports strukturiert und strategisch widmen. Auf der derzeit laufenden BMI-Machbarkeitsstudie könnte zeitnah aufgebaut und in der neuen Legislaturperiode ein Dialog- und Strategieprozess initiiert werden – wie wir ihn bereits im Zuge der Anregungen für ein Zentrum für Safe Sport vorgeschlagen hatten. 

In diesem Prozess sollte aus unserer Sicht das Governance-System erarbeitet werden, das den Schutz und die Integrität der Menschen im Sport, der Sportwettbewerbe und der Sportorganisationen bestmöglich gewährleistet. Auf Grundlage dieser Zieldefinition sollten Struktur- und Organisationsfragen abgeleitet werden. Daher legen wir uns nicht dogmatisch auf Organisationsstrukturen fest, sondern wollen uns mit strategischer Weitsicht und im Sinne der Athlet*innen und der vielen engagierten Personen im Sport an ein System annähern, wie es sein sollte.