Spitzensportreform: Zwischenstand stimmt optimistisch, nationale Spitzensportstrategie muss folgen.
Berlin, 15. September 2023. Athleten Deutschland begrüßt den heute erreichten Zwischenstand auf dem Weg zu einer umfassenden Reform der Spitzensportentwicklung in Deutschland. Dieser wird durch die heutigen Beschlüsse der Sportministerkonferenz in Herzogenaurach und die Kurzfassung eines korrespondierenden Feinkonzepts markiert.
Athleten Deutschland war in die Arbeits- und Aushandlungsformate in dem vorgeschalteten Prozess seit Beginn des Jahres intensiv involviert: Mit je einem von zwölf Plätzen in den vier Arbeitsgruppen (AG 1 – Personen, AG 2 – Strukturen, AG 3 – Nachwuchs, AG 4 – Steuerung) brachten wir uns nach Kräften konstruktiv ein. Eine Mitgliedschaft von Athleten Deutschland in den oberen Entscheidungs- und Verhandlungsebenen des Lenkungsausschusses und der Bund-Länder-Sport-AG war nicht möglich.
Unsere Beiträge basierten maßgeblich auf unseren Positionspapieren der jüngeren Vergangenheit (z.B. hier, hier und hier) sowie konkretisierenden Stellungnahmen und weiteren Eingaben im Laufe des Prozesses. Vor und während der Arbeitsphase standen wir fortwährend im Austausch mit Athlet*innen und Athletenvertreter*innen.
Eine profunde und differenzierte Bewertung der Reformvorhaben wird erst mit der Veröffentlichung der Langfassung des Feinkonzepts möglich werden. Athleten Deutschland beabsichtigt, diese Langfassung einer umfassenden Analyse zu unterziehen. Die von uns vorgebrachten Themen, Probleme und Herausforderungen fanden im Prozess weitgehend Gehör. Nach unserer vorläufigen Einschätzung wird eine Vielzahl unserer Positionen Gegenstand der Reformbemühungen sein.
Als Themenstränge hervorzuheben sind
- die Verbesserung der materiellen und sozialen Absicherung von Athlet*innen,
- die Verbesserung der Situation der Trainer*innen und des Leistungssportpersonals sowie die Etablierung korrespondierender Berufsbilder,
- ein Individualbudget für Athlet*innen, die ihre Umfeldbedingungen in begründeten Fällen u.a. in Eigenregie organisieren,
- systemweite Feedback- und Bewertungsmechanismen für Athlet*innen,
- systemweite Digitalisierungs- und Datenerhebungsvorhaben, z.B. auch in Form eines Athletenmonitorings,
- externe Clearing- und Konfliktmanagementsysteme,
- eine Evaluation des derzeitigen und die Modellierung eines optimierten Gesamtstützpunktsystems, um deutlich verbesserte Umfeldbedingungen für Athlet*innen zu schaffen,
- die notwendige Zieldebatte zur staatlich geförderten Spitzensportentwicklung,
- die Steuerung von Förderverfahren durch eine unabhängige Leistungssportagentur, in deren Aufsichtsgremien auch Athleten Deutschland als unabhängige Athletenvertretung vertreten sein muss,
- die Entbürokratisierung von Förderverfahren, Steigerung der Flexibilität für Verbände und zielgerichtete Controlling-Mechanismen sowie
- die Schaffung von überprüfbaren und verbindlichen Fördervoraussetzungen mit Bezug zu Integritäts- und Menschenrechtsrisiken.
Wir wünschen uns, dass die Spitzenverbände sich in ihrer Arbeit dem Ideal guter Entscheider zur Förderung der Athlet*innen und ihrer Disziplinen sukzessive annähern werden. Dafür sind u.a. folgende Bedingungen zu erfüllen: Flexibles Handeln mit dem nötigen Mindestmaß an Bürokratie und Überprüfung, Fähigkeit zur Steuerung und Umsetzbarkeit von Steuerungsinstrumenten, hochqualifiziertes Leistungssportpersonal in der Fläche sowie Anreizmechanismen, die gute Verbandsarbeit belohnen und Fehlleistungen korrigieren bzw. sanktionieren.
Der Weg zur Erfüllung dieser Bedingungen im Rahmen dieser Reform wird weiterhin beträchtliche Zeit beanspruchen. Damit die Athlet*innen auf diesem Weg nicht in Mithaftung genommen und ihre Entwicklung nicht in Mitleidenschaft gezogen wird, sind Sicherungs- und Fördermechanismen zu etablieren, die optimale Rahmenbedingungen für Athlet*innen auch kurz- bis mittelfristig gewährleisten können.
Außerdem plädieren wir dafür, die derzeitigen Reformstränge in der nationalen Spitzensportpolitik zu einer ganzheitlichen, nationalen Strategie für den Spitzensport in Deutschland zeitnah zusammenzufügen. Diese muss u.a.
- auf einer ganzheitlichen Integritätsarchitektur fußen,
- mehrdimensionale Nachhaltigkeitskriterien erfüllen,
- auf gesellschaftlich legitimierten und umsetzbaren Zielvorgaben basieren,
- ein effizientes und effektives Fördersystem umfassen, das die ganzheitliche Entwicklung der Athlet*innen zum obersten Ziel hat, und
- Mechanismen enthalten, die die Mehrwerte des Spitzensports heben und für die Bevölkerung nah- und erfahrbar machen, etwa im Rahmen von Sportgroßveranstaltungen und durch mediale Sichtbarmachung.
Athleten Deutschland wurde 2017 von dutzenden Athletenvertreter*innen auch im Lichte der enttäuschenden Erfahrungen rund um die Spitzensportreform 2016 gegründet, bei der Athlet*innen nur unzureichend eingebunden waren. Mit der nun begonnenen Reform der Reform bot und bietet sich erstmalig die Chance, die Potenziale einer unabhängigen Athletenvertretung durch enge Einbindung in und Mitbestimmung bei Diskussions- und Entscheidungsprozessen zu heben.
Wir hoffen, dass wir durch unsere Mitarbeit im Arbeitsprozess für das Feinkonzept den Mehrwert einer unabhängigen und professionellen Athletenvertretung unter Beweis stellen konnten. Wir sind überzeugt, dass die Mitbestimmung, Mitarbeit und intensive Einbindung von Athlet*innen und ihrer Vertreter*innen die Qualität von Entscheidungen und deren Akzeptanz im Spitzensportsystem erhöhen. Einen Beleg dafür sehen wir darin, dass einige der genannten, für die Athlet*innen sehr wichtigen Themenstränge im ursprünglichen Grobkonzept von BMI und DOSB noch keine oder nur unzureichende Beachtung fanden.
Weite Phasen des intensiven Arbeitsprozesses waren von gegenseitiger Offenheit, konstruktivem Miteinander und hoher Motivation der Beteiligten seitens des Bundes, der Länder und der Akteure des Sportsystems geprägt. Diese Aufbruchstimmung lässt uns hoffen, dass nun erste Weichen für umfassende und tiefgreifende Reformen im Spitzensportsystem gestellt werden.
Deren Gelingen wird maßgeblich von einer zügigen und effektiven Umsetzung abhängen. Um die Fehler der vergangenen Reformen zu vermeiden, sind zwingend begleitende Monitoring- und Evaluationsinstrumente zu verankern. Nur so kann der Fortschritt und die Wirksamkeit der Reformen in den kommenden Jahren mess- und sichtbar gemacht werden.