Menschenrechte, Gewalt und Missbrauch, Pressemitteilung, Stimme

Athleten Deutschland begrüßt Positionspapier zur Stärkung der Integrität im Sport

Berlin, 10. März 2023. Athleten Deutschland begrüßt ausdrücklich das Positionspapier „Sport als sichere Heimat“, das heute von den Sport-Arbeitsgruppen der Bundestagsfraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP veröffentlicht wurde. Im Namen der Kaderathlet*innen bedanken wir uns für das fortwährende und entschlossene Engagement der Politik, um die Integrität des Sports und besonders Menschen im Sport zu schützen.

Der Schutz seiner Integrität ist eine Kernaufgabe des Sports. Menschen, Wettbewerbe und Sportorganisationen müssen vor Gefährdungen bewahrt und auftretenden Missständen muss effektiv begegnet werden. Diese komplexen Herausforderungen sollten ganzheitlich, systematisch und strategisch bewältigt werden. Eine funktionierende Integritätsarchitektur ist zudem Bedingung für die Gewährung staatlicher Sportförderung und im ureigenen Interesse des organisierten Sports. Die Förderstrategie und -zusagen von Bund und Ländern sollten an überprüfbare Menschenrechts- und Integritätsstrategiender Fördernehmer gekoppelt werden.

Dem Papier liegen aus unserer Sicht eine klare Analyse und richtige Schlussfolgerungen zugrunde. So seien umfassende Präventionsansätze mit individuellen Risikoanalysen sowie „klare Strukturen und Prozesse“ nötig, um „Fehlverhalten zu ermitteln und zu sanktionieren sowie Wiedergutmachung zu leisten“. Das Papier fordert zu Recht die Verankerung einer „verbindlichen Integritätsarchitektur“. Demnach sollen im kommenden Sportfördergesetz alle Dimensionen von Integrität „auf Basis eines ganzheitlichen Integritätsansatzes“ berücksichtigt und „umfassende Mindeststandards“ definiert werden.

Wir begrüßen explizit, dass ein „Kontroll- und Evaluationsmechanismus“ etabliert werden soll, „der die Einhaltung der Vorgaben überprüft und Verstöße klar sanktioniert“. Das Papier spricht sich für unabhängige Instanzen aus, „die die Integrität des Sports absichern“ und zeigt sich perspektivisch offen für einen ganzheitlichen institutionellen Ansatz, wie er etwa in Australien oder der Schweiz mit der Schaffung einer Nationalen Integritätsagentur zu beobachten ist. Das Zentrum für Safe Sport[1]  könne hierbei die Grundlage legen.

Seit Ende 2021 fordert Athleten Deutschland im Positionspapier „Für eine Neuaufstellung der Integritäts-Governance im deutschen Sport“ eine umfassende Reform der Integritätsarchitektur im deutschen Sportsystem und eine perspektivische Erweiterung des Zentrums für Safe Sport zu einer nationalen Integritätsagentur.

Wir schlagen ein harmonisiertes Integritätssystem vor, in dem Integritäts- und Menschenrechtsrisiken strategisch zusammengeführt und ganzheitlich bearbeitet werden. Dieses System soll Präventionsmaßnahmen flächendeckend sowie überprüfbar umsetzen und Risiken reduzieren. Es nimmt mit einem zentralen Hinweisgebersystem Meldungen entgegen, geht effektiv gegen Missstände, Fehlentwicklungen und Integritätsverletzungen vor und hält wirksame Untersuchungs-, Sanktions- und Abhilfemechanismen bereit. In der Mitte dieses Integritätssystems könnte eine unabhängige Integritätsagentur als perspektivische Erweiterung eines Zentrums für Safe Sport stehen.

Auch innerhalb der Sportstrukturen könnten Integritätsfragen künftig ganzheitlich und evidenzbasiert bearbeitet werden – insbesondere im Präventionsbereich. Hochwertige Mindeststandards müssen gesetzt, Ansprechpersonen und Präventionskonzepte zertifiziert werden. Die Umsetzung letzterer sollen überprüft werden, sodass sich Organisationen des Sports durch solche Evaluierungen weiterentwickeln und existierende Lücken schließen. Diese Audits böten staatlichen Zuwendungsgebern eine nie dagewesene Grundlage, um Zuwendungsentscheidungen zu treffen.

Maximilian Klein, Direktor für Sportpolitik: Aus unserer Sicht wäre eine umfassende Analyse der derzeitigen Integritätsarchitektur, ein Integrity Governance Review nach australischem Vorbild, ein erster Schritt, um die bestehendeIntegritätslandschaft im Sport in Deutschland einer Bestandsaufnahme zu unterziehen und entsprechend Lücken und Handlungsbedarfe zur Erfüllung eines Zielbilds zu identifizieren. Mit dieser analytischen Grundlage könnten umfassende Reformprozesse im Sinne einer ganzheitlichen Integritätsstrategie angegangen werden, statt das bestehende Stückwerk und siloartige Parallelentwicklungen ohne erkennbare Abstimmungen weiterhin zuzulassen. Die Prozesse rund um die Spitzensportreform, das Sportfördergesetz und das Zentrum für Safe Sport bieten hierbei wichtige Anknüpfungspunkte für die nahe Zukunft.“

Hintergrundinformation

In unserer Bearbeitung von zahlreichen Fällen – insbesondere im Bereich von interpersonaler Gewalt, Machtmissbrauch und Ethikverstößen – hat sich eine Erkenntnis sehr deutlich herauskristallisiert: Im Spitzensportsystem existiert kein sicherer und bindender Mechanismus, um Missstände effektiv und im Sinne der Betroffenen aufzuklären, unabhängige Untersuchungen einzuleiten und Konsequenzen folgen zu lassen. Kernursache dieses Problems sind deutliche Gefälle innerhalb der Verbandslandschaft im Umgang mit Missständen. Die Qualität der Fallbearbeitung darf aus unserer Sicht nicht vom Engagement und der Integrität einzelner Personen abhängen. In den letzten Jahren haben sich zwar engagierte Netzwerke und gut aufgestellte Verbände im Integritätsbereich hervorgetan. Es fehlen aus unserer Sicht jedoch strukturelle Vorkehrungen. Hinweisgeber*innen und betroffene Personen brauchen sichere Prozesse, damit Meldungen von neutraler Seite entgegengenommen werden und auf diese nicht nur unabhängige Untersuchungen, sondern auch Konsequenzen im Sinne von Schlichtungs- und Sanktionsmechanismen folgen.

Intern benannten Stellen, u.a. Ansprechpersonen, bestehenden Ombudssystemen oder Ethik-Kommissionen, können bei der Fallbearbeitung auch die Hände gebunden sein. Manche zeigen sich für die Bearbeitung von Vorfällen oder Missständen nicht zuständig, sind überlastet oder haben keine Entscheidungs- oder Sanktionsbefugnis. In der Regel sprechen sie lediglich Empfehlungen aus, die von Verbandsentscheider*innen übergangen werden können. Ethik-Kommissionen haben sich als fragil erwiesen und können im Zweifel von der Verbandsführung kompromittiert werden. Einige der Ombudspersonen und (ehrenamtlich besetzten) Ethik-Kommissionen arbeiten unserer Erfahrung nach nicht immer sachgemäß, manchmal unprofessionell und nicht mit der gebotenen Sorgfalt. Ihre Besetzung wird von Verbänden selbst bestimmt. Die Erstellung von Untersuchungsberichten dauert zu lange und folgt weder einem standardisierten noch einem sicheren Prozess. Das vom DOSB kürzlich geschaffene Hinweisgebersystem und die Ad-hoc-Ethik-Kommission sind begrüßenswerte Schritte in die richtige Richtung. Diese Maßnahmen sind jedoch aus unserer Sicht kaum geeignet, die Grundproblematik fehlender bindender Regelwerke, fehlender nutzerzentrierter Prozesse sowie unabhängiger Untersuchungs- und Sanktionsmechanismen aufzulösen.

[1] Für dessen Konzeptionierung führt das BMI aktuell einen breit angelegten Stakeholderprozess durch. Der Prozess soll im Sommer 2023 abgeschlossen sein.