Gewalt und Missbrauch

Zusammenfassung unserer Analyse der Machbarkeitsstudie

Am 10. Februar 2021, vor etwas mehr als einem Jahr, veröffentlichten wir unser Impulspapier mit Anregungen für ein unabhängiges Zentrum für Safe Sport. Das Papier entstand nach den Eindrücken des 4. Öffentlichen Hearings „Sexueller Kindesmissbrauch im Sport“ der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs („Kommission“) im Herbst 2020. Innerhalb weniger Monate fand sich eine breite gesellschaftliche wie auch über die Parteigrenzen hinausgehende Unterstützung für die Schaffung einer solchen unabhängigen Einrichtung. Die neue Ampelkoalition verankerte den Aufbau eines Zentrums für Safe Sport in ihrem Koalitionsvertrag. Die Bundesregierung handelte rasch und beauftragte die Erstellung einer Machbarkeitsstudie, zu deren Ergebnissen wir nachfolgend Stellung beziehen. Auf der Studie können nun weitere Schritte, wie die zeitnahe Umsetzung eines Strategieprozesses und die Entwicklung eines bindenden Rechtsrahmens gegen Gewalt und Missstände im Sport („Integritätscode“) aufbauen. Hierzu unterbreiten wir abschließend einen Vorschlag für den weiteren Prozess und damit die nächsten Schritte (s. hier). 

Die Machbarkeitsstudie zur „Einrichtung für sicheren und gewaltfreien Sport belegt und bejaht eindrücklich den Bedarf eines unabhängigen Zentrums für Safe Sport und stellt heraus, dass dieses umfassende Aufgaben in den Bereichen der Prävention, Intervention und Aufarbeitung wahrnehmen und sich sowohl auf den Spitzen- als auch auf den Breitensport erstrecken soll (s. u. Punkte 1 – 28). Die Studie bestätigt damit in weiten Teilen die Problemanalyse und konzeptionellen Ableitungen, die unserem Impulspapier zugrunde liegen. Ein Zentrum für Safe Sport soll ein Monitoring- und Evaluierungssystem im Präventionsbereich verantworten, Beratungsstandards definieren und bei der Erstellung von Risikoanalysen sowie der Fortentwicklung von Schutzkonzepten unterstützen. 

Die Studie empfiehlt ferner die Entwicklung einheitlicher Regeln gegen interpersonale Gewalt („Muster-Code“). Aus unserer Sicht sollte geprüft werden, ob ein solcher Integritätscode nicht nur einen bindenden Rechtsrahmen für interpersonale Gewalt, sondern auch für weitere Missstände bilden kann. Dieser würde als Fundament eines Zentrums für Safe Sport, entsprechender Interventionsbefugnisse sowie einer unabhängigen Schiedsgerichtsbarkeit dienen, die die Studie als zentrale Maßnahme im Interventionsbereich definiert. Entsprechende Disziplinarverfahren können mit niedrigeren Schwellen und geringeren Beweismaßstäben als bei staatlichem Recht verbunden sein. 

Weiterhin soll das Zentrum ein System zum Fallmanagement und -monitoring verantworten, mit Ermittlungskompetenzen ausgestattet sein sowie Befugnisse zur Nachverfolgung von Beschwerden in Verbänden und Vereinen haben. Es soll Sportorganisationen beim Umgang mit Verdachtsfällen und in der Intervention unterstützen. Wir begrüßen zudem die Empfehlung, dass von einem Zentrum für Safe Sport eine methodologisch geordnete und vom Sport unabhängige, betroffenenzentrierte Aufarbeitung vergangener Fälle ausgehen soll. Es soll abschließend vorhandene Strukturen stärken, vernetzen und koordinieren.  

Im weiteren Verlauf unserer Analyse führen wir Anmerkungen (s. u. Punkte 27 – 39), Klärungsbedarf (s. u. Punkte 40 – 46) sowie unzureichend adressierte Fragestellungen (s. u. Punkte 47 – 56) aus, die in der kurzen Bearbeitungszeit sicherlich nicht bearbeitbar waren. Als besonders relevant erachten wir: 

  • Der angegebene Finanzierungsbedarf erscheint deutlich zu niedrig und unrealistisch, führt man sich die Zuständigkeit für Fälle interpersonaler Gewalt im Breiten- und Leistungssport sowie umfassende Kompetenzen in den Bereichen Prävention, Intervention und Aufarbeitung vor Augen. Der Grobschätzung fehlt eine nachvollziehbare und szenarienbasierte Berechnungsgrundlage. Wir empfehlen eine detaillierte und realistische Kostenschätzung zur Umsetzung der jeweiligen Kompetenzbereiche im weiteren Strategieprozess. Ein Zentrum für Safe Sport sollte von Beginn an mit adäquaten Ressourcen und Kompetenzen ausgestattet sein. 
  • Der Bestandsaufnahme bestehender Strukturen und Maßnahmen im Sport fehlt es einer kritischen Einschätzung. Die bisherige Akteurslandschaft stellt sich als diffus und verteilt dar. Das aktuelle System ist zerfasert; seine Akteure agieren teils isoliert und unkoordiniert. Es gibt keine erkennbaren Strategien für eine flächendeckende, datengetriebene und qualitativ hochwertige Harmonisierung von Präventionsmaßnahmen. Das Schutzniveau von Personen im Sport darf nicht willkürlich von Wohnort und/oder Sportart abhängig sein. Fraglich ist, welche unausgeschöpften Steuerungspotenziale im organisierten Sport verbleiben und wo ein Zentrum für Safe Sport zusätzlich koordinierend und steuernd tätig sein könnte.  
  • Zu prüfen ist, ob ein Zentrum für Safe Sport abseits einer Anlauf- und Meldestellenfunktion für Betroffene (oder Dritte und Hinweisgeber*innen) auch Erstberatungs- und Unterstützungsleistungen anbieten kann. Soll ein Zentrum für Safe Sport auch unabhängige Untersuchungs- und Sanktionsfunktionen haben, ist zu prüfen, ob unter diesen Gegebenheiten auch parteiische Unterstützungs- und Beratungsleistungen für Betroffene angeboten werden sollen. Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten für Betroffene könnten extern angeboten werden, wie es Athleten Deutschland bereits durch die Einrichtung einer Beratungsstelle im Spitzensport absehbar tun wird. Im Breitensport wäre dann eine regionale Clusterung von unabhängigen Anlauf- und Beratungsstellen zu diskutieren. 
  • Die Studie attestiert Vereinen, Fachverbänden und deren Jugendorganisationen fehlende Unabhängigkeit im Umgang mit Fällen. Dabei bleibt unklar, ob damit im Umkehrschluss anderen Organisationen des Sports wie Landessportbünden und -jugenden Unabhängigkeit unterstellt wird. Wenngleich letztere größere Distanz zu Fällen haben und ihre Ansprechpersonen der Integrität und Vertraulichkeit höchstmögliche Priorität einräumen, können auch sie in problematische Konstellationen, gar in Interessenkonflikte geraten und in Abhängigkeitsverhältnissen stehen. Es bleibt daher grundsätzlich zu prüfen, ob interne Ansprechpersonen weiterhin Betroffenen und Verbänden bzw. Vereinen zur Verfügung stehen sollen. Betroffenenzentriertes Handeln darf nicht vom Engagement und guten Willen einzelner Personen im Sport abhängig sein, sondern braucht struktureller Verankerung. Handelnde in Sportorganisationen dürfen grundsätzlich keinen Interessenkonflikten ausgesetzt sein. 
  • Die Studie fordert richtigerweise umfassende Interventionskapazitäten für ein Zentrum für Safe Sport, adressiert die zu Grunde liegenden Strukturprobleme allerdings weitestgehend nicht. Laut Studie gebe es sowohl inner- als auch außerhalb des Sports zahlreiche Interventionsangebote. Dabei haben Ansprechpersonen innerhalb der Sportstrukturen jedoch unzureichende Untersuchungs- und Durchgriffskompetenzen, können oft nur mit Empfehlungen und Orientierungsfunktion einwirken. Ihre Handlungsmöglichkeiten sind begrenzt, zumal sie prinzipiellen Interessenkonflikten ausgesetzt sind. Gleiches gilt vielfach für Ombudspersonen oder Ethikkommissionen von Verbänden. Arbeits- und kostenintensive Interventionsarbeit überlastet selbst gut ausgestattete Verbände bzw. Landessportbünde.  

Wir schließen unsere Analyse mit einem Vorschlag zum weiteren Vorgehen (s. u. Abbildung 1). Aus unserer Sicht sollten die weiteren Prozesse mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Zeithorizonten parallel gesteuert werden, um einerseits dringenden Handlungsbedarfen zeitnah begegnen zu können, und andererseits die mittel- und langfristig notwendige Herangehensweise an das Thema Safe Sport und die einrahmende Integritäts-Governance zu ermöglichen. 

Zum frühestmöglichen Zeitpunkt sollte eine von der Bundesregierung initiierte Safe Sport-Strategie gestartet werden, in der offene Fragen adressiert werden und über die Feinplanung entschieden wird. Wir empfehlen, danach einen Integritätscode zeitnah als bindenden Rechtsrahmen gegen interpersonale Gewalt sowie weitere Missstände zu entwickeln. Dieser würde das Fundament eines Zentrums für Safe Sport sowie dessen Befugnissen bilden. Um kurzfristigen Handlungsbedarfen zu begegnen, sollten in der Zwischenzeit bereits unabhängige Beratungsstellen für Betroffene sowie behelfsmäßige Interventionskapazitäten zur Überbrückung aufgebaut werden. Athleten Deutschland plant, die Aufbauarbeiten für die Anlauf- und Beratungsstelle im Spitzensport in der ersten Jahreshälfte 2022 abgeschlossen zu haben.  

Nach Finalisierung des Integritätscodes sollte mit dem Aufbau des Zentrums für Safe Sport begonnen werden. Bereits im Vorfeld sollten organisatorische, rechtliche, finanzielle und inhaltliche Vorplanungen angestellt werden. Das Zentrum sollte zuerst seine Interventionskapazitäten für die Meldung und Untersuchung von Fällen und Missständen sowie ein Schiedsgerichtssystem etablieren. Die Kapazitäten in den Bereichen Prävention und Aufarbeitung könnten dann nachgelagert starten. Eine sportinterne Bedarfsanalyse könnte bereits nach dem Strategieprozess angeschoben werden, um in der Fläche auch die Strukturen des Sports zu stärken. 

Die Studie befürwortet ausdrücklich die von Athleten Deutschland angeregte Diskussion zur Neuaufstellung der Integritäts-Governance im deutschen Sport und zur Schaffung einer Nationalen Integritätsagentur, betont jedoch richtigerweise die Notwendigkeit weiterer Untersuchungsbedarfe. Für eine langfristig ganzheitliche und harmonisierte Integritäts-Governance bedarf es letztlich einer Bestandsaufnahme des Status Quo aller Integritätsbereiche. Eine solche Integrity Governance Review könnte ebenfalls nach dem Strategieprozess beauftragt werden und im Nachgang als Grundlage für ein harmonisiertes und ganzheitliches Integritätssystem dienen, dessen Akteure künftig Personen, Wettbewerbe und Organisationen vorbildlich und frei von Interessenkonflikten schützen.