Evaluation von unabhängiger Anlaufstelle für den Spitzensport vorgestellt: Mehr als 90 Anfragen von Mai bis Oktober: Anlauf gegen Gewalt wirkt.
Berlin, 30. November 2022. Am Mittwoch (30. November), befasst sich der Sportausschuss des Deutschen Bundestages mit dem Sachstand zum Zentrum für Safe Sport und einem Erfahrungsbericht zur Anlaufstelle Anlauf gegen Gewalt von Athleten Deutschland. In unserer Stellungnahme stellen wir u.a. die Begleitevaluation von Anlauf gegen Gewalt vor.
Anlauf gegen Gewalt nahm am 16. Mai 2022 den Betrieb auf. Die Anlaufstelle für Bundeskaderathlet*innen erhält seitdem bis zu mehrere Kontaktanfragen pro Woche.
Der Evaluationsbericht der wissenschaftlichen Begleitung durch das Heidelberger Institut für Sozial- und Verhaltenswissenschaften e.V., An-Institut der SRH Hochschule Heidelberg, zeigt: Anlauf gegen Gewalt entfaltet seine beabsichtigte Wirkung.
- Von Mitte Mai bis Ende Oktober haben sich bislang 93 ratsuchende Personen an Anlauf gegen Gewalt [1]
- Gewaltbetroffene Personen stellen mit 58 % die größte Gruppe der Ratsuchenden dar. Bei etwa einem Drittel der Ratsuchenden (37,7 %) handelt es sich um Personen, die Gewalt beobachte(te)n, vermuten oder um die Gewalterfahrungen Dritter wissen.
- Das Gros der Hilfegesuche (N=72) stammt von Kaderathlet*innen (63,9 %). Dabei suchen aktive Kaderathlet*innen (30,6 %) gleichermaßen Rat bei Anlauf gegen Gewalt wie ehemalige Kaderathlet*innen (33,3%).
- Unter den 39 gewaltbetroffenen Ratsuchenden ist der Anteil aktiver Kaderathlet*innen (43,6%) und ehemalige(r) Kaderathlet*innen (46,2%) etwa gleich hoch.
- Zur Art der Gewalterfahrungen liegen in 64 Hilfegesuchen Informationen vor. Einige der Prävalenzen bilden die Befunde repräsentativer Studien approximativ ab.
- psychische Gewalt: 86,4 %
- Grenzverletzung: 81,4 %.
- sexualisierte Gewalt ohne Körperkontakt (40,7 %) und mit Körperkontakt (23,7 %)
- Vernachlässigung: 37,3 %
- Formen digitaler Gewalt bzw. unter Einsatz digitaler Medien: 22 %
- Vorbereitungshandlungen (z.B. Anbahnung/Grooming): 15,3 %
- körperliche Gewalt: 10,2 %
- Diskriminierung (z.B. homophobe und/oder rassistische Beleidigung): 5,1 %
- In 90,6 % der registrierten Hilfegesuche (N=53) wird Gewalt gegen Frauen berichtet.
- Die klare Mehrheit der dokumentierten Hilfegesuche (N=63) bezieht sich auf vergangene Gewalterfahrungen: 14,3 % der geschilderten Gewalterfahrungen liegen maximal 12 Wochen, 27 % zwischen drei und 12 Monaten und 41,3 % mehr als ein Jahr zurück.
- In 38,6 % handelt es sich um eine einmalige Gewalterfahrung (N=57). Weit häufiger werden wiederkehrende Gewalterfahrungen im Sport (59,6 %) geschildert.
- Nahezu alle Gewaltwiderfahrnisse (N=70) wurden durch eine/n Einzeltäter*in verübt (91,7 %).
- In neun von 55 Gewaltwiderfahrnissen durch eine/n Einzeltäter*in (16,4 %) wurde auf eine hohe Anzahl Mitwissender innerhalb des Vereins-/ Verbandskontextes verwiesen.
- In 91,9 % der Hilfegesuchen (N=62) wird Gewalt durch Männer dokumentiert.
- Die von den Ratsuchenden geschilderten Gewalterfahrungen (N=68) werden größtenteils von Trainer*innen (75 %) verübt. Vereins- und Verbandsangehörige werden in 13,3 % der Hilfegesuche als Täter*innen benannt.
- Die Kontaktaufnahme mit Anlauf gegen Gewalt stellt für die meisten der Ratsuchenden (N=61) ein erstmaliges Hilfegesuch dar (86,9 %). Demgegenüber wird für 59,7 % der Hilfegesuche (N=62) ein zurückliegender Aufdeckungsversuch festgehalten.
Meist wünschen sich Ratsuchende psychosoziale Beratung. Die Gründe für das Hilfegesuch reichen von Informationsabfragen, Verweisen auf Nicht-Handeln Mitwissender, Fallschilderungen zwecks Aufdeckung oder Aufarbeitung, über psychosoziale Entlastung und erwünschte (Krisen-)intervention bis hin zur Übermittlung politischer Forderungen.
In vielen Fällen wurde dokumentiert, dass zuvor bereits Versuche unternommen wurden, erlebte oder wahrgenommene Gewalt aufzudecken. Diese Offenlegungsversuche erfolgten in den meisten Fällen in institutionellen Strukturen des Leistungssports. Sie scheiterte aus Perspektive der Betroffenen bzw. ihrer Unterstützer*innen nahezu ausnahmslos. Gründe dafür waren etwa, dass Verantwortliche die Gewalt bagatellisierten, dass Betroffenen die Schuld für die Gewalt unterstellt wurde oder dass Täter*innen die Gewalt dementierten. Gewaltbetroffene erlebten auch negative Folgen für ihre Sportkarriere.
Anlauf gegen Gewalt füllt mehrheitlich die Funktion einer Erstanlaufstelle aus. Die primäre Zielgruppe von Anlauf gegen Gewalt, die Kaderathlet*innen, nimmt das Angebot in Anspruch. In der Wahrnehmung Betroffener und ihrer Unterstützer*innen wird Anlauf gegen Gewalt daher als ernstzunehmende Alternative zu sportinternen Strukturen wahrgenommen. Die Anlaufstelle ist unabhängig vom Sport und bietet ein breites Angebotsportfolio mit längerfristiger Begleitung und mit sportspezifischer Expertise. Athleten Deutschland, das natürliche Zuhause der Athlet*innen, initiierte das Projekt. Unter anderem deshalb scheint Anlauf gegen Gewalt als bereichsspezifisches, vertrauenswürdiges und qualifiziertes Hilfe- und Unterstützungsangebot wahrgenommen zu werden.
Maximilian Klein: „Wir können keine Vergleiche zur Arbeit und Betreuung durch andere sportinterne Anlaufstellen und Mechanismen ziehen. Vergleichbare Evaluationen zur Wirksamkeit sportinterner Anlaufstellen fehlen unseres Wissens. Hierfür wäre ein von uns gefordertes einheitliches Fallmonitoringsystem mit festgesetzten, datenschutzkonformen und betroffenenzentrierten Melde- und Berichtsstandards vonnöten. Dieses könnte vom Zentrum für Safe Sport etabliert werden. Mit solchen Maßnahmen ließe sich nicht nur ein umfassendes Lagebild über die Zeit hinweg erstellen, sondern auch die Qualität der Beratungs- und Betreuungsarbeit erfassen und Handlungsbedarfe ermitteln.“
Hintergrundinformationen zu Safe Sport, Menschenrechte und Integrität:
Angebot und Erreichbarkeit von Anlauf gegen Gewalt
Anlauf gegen Gewalt ist eine Initiative von Athleten Deutschland e.V. für Kaderathlet*innen, die interpersonale Gewalt erfahren oder erfahren haben. Neben telefonischer und/oder schriftlicher Beratung bietet Anlauf gegen Gewalt bei Bedarf auch psychotherapeutische und/oder rechtliche Erstberatung an. Der Erstkontakt ist auch anonym möglich. Betroffenen steht zudem die Möglichkeit offen, von unseren Expertinnen längerfristig begleitet zu werden. Die Anlaufstelle ist telefonisch unter 0800 90 90 444 (montags 11 bis 14 Uhr und donnerstags von 16 bis 19 Uhr) oder per E-Mail unter kontakt@anlauf-gegen-gewalt.orgerreichbar. Anlauf gegen Gewalt ersetzt nicht den Aufbau eines unabhängigen Zentrums für Safe Sport, das weitergehende Kompetenzen haben soll.
Sportpolitische Entwicklungen zum Zentrum für Safe Sport, zu Menschenrechten und Integrität
- Im Herbst 2020 fand ein Hearing der Aufarbeitungskommission zum Thema Missbrauch im Sport statt. Im Februar 2021 veröffentlichten wir unser Impulspapier für ein unabhängiges Zentrum für Safe Sport, das viel Zuspruch erfuhr (s. detaillierte Entwicklungen hier).
- Das BMI handelte rasch und beauftragte die Durchführung einer Machbarkeitsstudie, die Anfang 2022 den Bedarf eines Zentrums für Safe Sport bestätigte. Im Februar 2022 veröffentlichten wir unsere Analyse der Studie und forderten einen Integritätscode.
- Die Regierungskoalition bekannte sich im Koalitionsvertrag Ende 2021 zum Zentrum.
- Athleten Deutschland nahm Anlauf gegen Gewalt im Mai 2022 in Betrieb.
- Im August 2022 befürwortete der organisierte Sport den Aufbau eines unabhängigen Zentrums für Safe Sport nach einem umfassenden Dialogprozess.
- Im November gründetena. Bund und Länder den Verein Safe Sport e.V., der eine unabhängige bundesweite Anlaufstelle betreiben soll. Somit werden auch Betroffene aus dem Breitensport zeitnah ein Unterstützungsangebot erhalten. Ein Stakeholderprozess zum Aufbau des Zentrums für Safe Sport steht in Aussicht.
- Seit Dezember 2021 fordert Athleten Deutschland im Positionspapier „Für eine Neuaufstellung der Integritäts-Governance im deutschen Sport“ umfassende Reformen der Integritätsarchitektur im deutschen Sportsystem und eine perspektivische Weiterentwicklung des Zentrums für Safe Sport hin zu einer Nationalen Integritätsagentur.
- Im Kontext einer Anhörung des Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages zu Sport und Menschenrechten im Mai fasste Athleten Deutschland seine Anregungen und Forderungen im Positionspapier „Agenda für Menschenrechte im Sport angehen und Menschenrechtsrisiken im Spitzensport“
- Die dsj beabsichtigt, mit einem Zukunftsplan Safe Sport die Kapazitäten des organisierten Sports im Handlungsfeld zu stärken. Der DOSB hat mit der Erarbeitung einer Menschenrechtsstrategie begonnen. Im Sport beginnen erste institutionelle Aufarbeitungsprozesse. Neben den Leitlinien der Aufarbeitungskommission plant auch die dsj Aufarbeitungsleitlinien.
- Im September wurden die wegweisenden Studien SicherImSport für den Breitensport sowie eine Studie der Aufarbeitungskommission veröffentlicht, die den Bedarf für Aufarbeitungsprozesse erneut verdeutlicht.
[1] Für die Auswertung waren 77 dokumentierte Hilfegesuche nutzbar. Die im Folgenden dargelegten Prozentsätze beziehen sich auf unterschiedliche Grundgesamtheiten, da das Dokumentationsraster nicht in allen Fällen vollständig ausgefüllt wurde. Diese Grundgesamtheiten werden bei den jeweiligen Erhebungen nach folgendem Schema angegeben (N=93).