Drei Jahre nach dem Hearing: Athleten Deutschland veröffentlicht Jahresbericht der wissenschaftlichen Begleitung von Anlauf gegen Gewalt
Berlin, 20. Oktober 2023. Athleten Deutschland veröffentlicht heute den ersten Jahresbericht der unabhängigen AnlaufstelleAnlauf gegen Gewalt für Betroffene von physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt im Spitzensport. Im ersten Jahr des Betriebs haben sich 153 Ratsuchende an die Anlaufstelle gewendet. Der Berichtszeitraum lief vom 16. Mai 2022 bis 15. Mai 2023.
Der 20. Oktober markiert einen wichtigen Punkt im Engagement von Athleten Deutschland für das Thema Safe Sport: Vor genau drei Jahren, am 20. Oktober 2023, nahmen wir am Hearing der „Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ zum Tatkontext Sport teil.
Die Berichte der Betroffenen verstanden wir als Auftrag. Mit Anlauf gegen Gewalt schufen wir im vergangenen Jahr ein direktes Unterstützungsangebot für Betroffene im Spitzensport, während wir uns parallel für den Wandel auf struktureller Ebene in Form eines Zentrums für Safe Sport stark machten. Nach unserem Impulspapier im Jahr 2021 wurde der Aufbau des Zentrums im Koalitionsvertrag verankert. Mittlerweile steht nach einem umfassenden Stakeholderprozess des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (BMI) eine Roadmap für den Aufbau fest.
Es freut uns besonders und erfüllt uns mit Dankbarkeit, dass der Bundeshaushalt für 2024 Mittel in Höhe von 1,25 Millionen für das Zentrum für Safe Sport vorsieht. Dies ist ein deutliches Signal an alle Betroffenen und alle Menschen im Sport, dass ihr Schutz und ihre körperliche Unversehrtheit im Breiten- wie im Spitzensport hohe Priorität haben.
Im Folgenden fassen wir die wichtigsten Ergebnisse unseres Jahresberichts von Anlauf gegen Gewalt zusammen:
- Unter den 153 Ratsuchenden waren 58 gewaltbetroffene Personen (46,4 %) und 58 Personen, die Gewalt im Leistungssport beobacht(et)en, vermuten und/oder um die Gewalterfahrung Dritter wissen (nachfolgend Unterstützer*innen genannt) (46,4 %) (N = 125).
- Etwa die Hälfte der Hilfegesuche stammt von Bundeskaderathlet*innen (55,3 %) (Aktive: 30,9%, Ehemalige: 24,4 %).
- Betroffene erleben in der Regel mehrere Formen von Gewalt (N = 110): Psychische Gewalt (75,5 %), Grenzverletzung (63,6 %), sexualisierte Gewalt ohne Körperkontakt (35,5 %), Vernachlässigung (28,2 %), sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt (27,3%), digitale Gewalt (17,3 %), Grooming (16,4 %), körperliche Gewalt (10 %), Diskriminierung (2,7 %). Die Ratsuchenden berichten mehrheitlich von wiederkehrenden Gewalterfahrungen im Sport.
- Ein nennenswerter Anteil der Hilfegesuche bezieht sich auf Gewaltwiderfahrnisse in Kindheit und Jugend (44 %) (N = 116) sowie auf Gewalt, die zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme mit der Anlauf- und Beratungsstelle noch stattfindet (22 %) (N = 118). Somit wird Anlauf gegen Gewalt eine bedeutende Funktion für den Kinder- und Jugendschutz im Leistungssport zuteil.
- Die Gewalt wurde / wird zumeist durch Männer (85,5 %) (N = 114) sowie durch Einzelpersonen (79,1 %) (N = 125) in Trainer*innenfunktion (79,6 %) (N = 108) verübt.
- Die Betroffenen heben häufig hervor, dass Mitwissende durch Geheimhaltung / Vertuschung eine Fortführung der Gewalthandlungen ermöglich(t)en. Dabei wird auch auf die Problematik der Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse des Leistungssportsystems verwiesen. Diese spiegeln sich nicht zuletzt in den berichteten Offenlegungsversuchen wider (53,3 %) (N = 107), die infolge von Ignoranz, Bagatellisierung und/oder Schuldzuweisungen scheiterten.
- Die meisten Ratsuchenden suchen mit ihrer Kontaktaufnahme zu Anlauf gegen Gewalt erstmals Hilfe (81 %) (N = 116).
- Etwa vier Fünftel der Ratsuchenden (77,8 %) (N = 108) berichtet Gewalt gegen Mädchen und Frauen.
- Der Anteil dokumentierter Gewalt gegen Jungen und Männer hat sich binnen eines halben Jahres versiebenfacht. Diese Entwicklung ist als Erfolg von Anlauf gegen Gewalt anzuerkennen, da die Offenlegungshemmnisse für Jungen und Männer im Leistungssport besonders groß sind.
Athleten Deutschland lässt die Arbeit der unabhängigen Anlaufstelle Anlauf gegen Gewalt fortlaufend wissenschaftlich begleiten. Die wissenschaftliche Begleitung wurde durch das Heidelberger Institut für Sozial- und Verhaltenswissenschaften e.V., An-Institut der SRH Hochschule Heidelberg, unter der Leitung von Katharina Kärgel durchgeführt.
Hintergrundinformation: Relevante Meilensteine zur Errichtung des Zentrums für Safe Sport
- Oktober 2020: Hearing der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchszu Missbrauch im Sport und initialer Forderung von Athleten Deutschland zum Zentrum für Safe Sport
- Februar 2021: Impulspapier von Athleten Deutschland mit Anregungen für ein unabhängiges Zentrum für Safe Sport, das breite Unterstützung von Betroffenen, Politik, Wissenschaft und Praxis nach sich zog
- Mai 2021: Anhörung im Sportausschuss des Deutschen Bundestages zum Handlungsfeld Safe Sport
- November 2021: Verankerung des Zentrums für Safe Sport im Koalitionsvertrag der Bundesregierung
- Januar 2022: Ergebnisse einer vom Bund beauftragten Machbarkeitsstudie „Einrichtung für sicheren und gewaltfreien Sport“
- Mai 2022: Inbetriebnahme von Anlauf gegen Gewalt, der unabhängigen Anlaufstelle für den Spitzensport von Athleten Deutschland
- August 2022: Befürwortende Position von DOSB/dsj zum Zentrum für Safe Sport nach umfassendem Dialogprozess innerhalb des organisierten Sports
- November 2022: Gründung des Safe Sport e.V. von Bund und Ländern sowie weiteren Gründungsmitgliedern als Trägerverein einer unabhängigen Ansprech- und Beratungsstelle
- Dezember 2022: Beginn des Stakeholderprozesses des BMI zum Zentrum für Safe Sport
- Juli 2023: Inbetriebnahme der Anlaufstelle des Safe Sport e.V. mit unabhängigem Beratungsangebot
- Juli 2023: Beginn des Gutachtenprojekts von Athleten Deutschland und DOSB zur Erarbeitung rechtlicher Grundlagen für eine effektive Aufgabenwahrnehmung des Zentrums im Rahmen des Stakeholderprozesses des BMI
- August 2023: Abschluss des Stakeholderprozesses des BMI mit der Roadmap zum Zentrum für Safe Sport
- Oktober 2023: Verankerung des Zentrums für Safe Sport im Bundeshaushalt für 2024 mit 1,25 Millionen Euro
Hintergrund: Grundlagendokumente von Athleten Deutschland, die Basis für unsere Mitarbeit am Stakeholderprozess des BMI bildeten
- Februar 2021: Impulspapier mit Anregungen zum Zentrum für Safe Sport
- Mai 2021: Stellungnahme zum Zentrum für Safe Sport (Stellungnahme im Rahmen einer Anhörung im Sportausschuss des Deutschen Bundestages)
- November 2021: Zusammenfassung der Entwicklungen im Bereich Safe Sport ein Jahr nach dem Hearing der Aufarbeitungskommission
- Dezember 2021: Reformvorschläge für eine Neuaufstellung der Integritätsarchitektur im Sport
- Februar 2022: Analyse der Machbarkeitsstudie zum Zentrum für Safe Sport
- Mai 2022: Positionspapier zur Wahrung von Menschenrechten im Sport (Stellungnahme im Rahmen einer Anhörung im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestages)
- August 2022: Reaktion auf die DOSB-Position zum Zentrum für Safe Sport
- September 2022: Reaktion auf die Studie der Aufarbeitungskommission zu Gewalt- und Missbrauchserfahrungen im Sportkontext
- November 2022: Zwischenevaluation von Anlauf gegen Gewalt sowie Ausführungen in den Handlungsfeldern Safe Sport, Menschenrechte und Integrität (Stellungnahme im Rahmen einer Anhörung im Sportausschuss des Deutschen Bundestages)
- März 2023: Ausführungen zu Handlungsbedarfen in Politik und Sport im Themenfeld Integrität (Stellungnahme im Rahmen einer Anhörung im Sportausschuss des Deutschen Bundestages)